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Das

Europäische Völkerrecht

der Gegenwart

auf den bisherigen Grundlagen.

Einleitung.

I.

Völkerrecht überhaupt.

Bedeutung und Existenz eines Völkerrechtes.

1. Völkerrecht, ius gentium, hieß in seiner antiken und weitesten Bedeutung, wie sie die Römische Rechtswissenschaft aufgestellt hat', die gemeinsame Völkersitte, welche nicht allein unter den Nationen im gegenseitigen Verkehr als Regel beobachtet ward, sondern auch die inneren gesellschaftlichen Zustände in den Einzelstaaten gleichmäßig durchdrang und regelte, so weit sie nicht daselbst ihre eigenthümliche Begründung oder Gestaltung empfangen hatten. Es enthielt demnach theils ein äußeres Staatenrecht theils ein allgemeines Menschenrecht. In der neuen Welt ist ihm nur die erstere Bedeutung eines äußeren Staatenrechtes, ius inter gentes, droit international verblieben. Der andere Bestandtheil des antiken Völkerrechtes, gleichsam das gemeinsame Privatrecht aller Menschen von gleicher Sitte, hat sich dagegen in dem inneren Rechtssystem der Einzelstaaten verloren; dem heutigen Völkerrecht gehört er nur noch in so fern an, als gewisse

1) Ueber diesen Begriff s. m. Isidor. Orig. V, 4. Dirksen im Rhein. Mus. f. Jurispr. I, 1. Welcker Encyclop. und Method. Stuttg. 1829. S. 88. 123. v. Savigny System I, S. 109. 413.

2) Dieser Ausdruck ist zuerst von Zouch im Jus feciale v. 1650 als der richtigere anerkannt. D'Aguesseau nannte es droit entre les gens; seit Bentham ist die Benennung droit international, international law gebräuchlich worden. Wheaton, histoire du droit des gens. p. 45. 46. (2 ed. p. 142).

Menschenrechte und Privatverhältnisse zugleich auch unter die Tutel oder Gewährleistung verschiedener Nationen gegenseitig gestellt sind.

Giebt es nun ein äußeres Staatenrecht überhaupt und überall? In der Wirklichkeit gewiß nicht für alle Staaten oder Völker des Erdballes. Immer hat es nur in gewissen Kreisen derselben seine Entwickelung erhalten; auf die umfassendste Weise ist es in dem christlichen Europa und in den von hier aus gegründeten Staaten in das allgemeine Bewußtsein getreten, so daß man ihm den Namen eines Europäischen gegeben hat und mit Recht noch immer geben darf'. Die Staaten selbst mit ihren Vertretern und mit den unter ihrem Schuge stehenden sind darin die Personen oder Rechtssubjecte.

Grundlage und Sanction des Völkerrechtes 2.

2. Recht im Allgemeinen ist die äußere Freiheit der Person. Vereinzelt sett es der Mensch sich selbst, indem er seinen Willen zur That macht und ihn wiederum bindet, wo es die innere Ueberzeugung gebietet oder der äußere Nußen anräth. In geselliger Verbindung mit Anderen wird es durch den gemeinsamen Willen oder durch denjenigen gesetzt, welcher die Uebrigen seinem Recht unterworfen hält; es ist hier die gesellschaftliche Ordnung. Ohne Recht giebt es keine dauernde Verbindung3. Entweder ist es nun ein garantirtes Recht, welches unter dem Schuße und Zwange einer dazu ausreichenden Macht gestellt ist, oder ein freies Recht, welches der Einzelne selbst schüßen und sich erhalten muß. Das Völkerrecht ge= Hört in seiner Ursprünglichkeit zur letzteren Art. Der einzelne Staat

1) Ein anderes Völkerrecht befolgen wilde Völkerschaften, ein anderes die Moslim u. s. w. Richtig bemerkt von Leibnitz Cod. iur. gent. proœm., Montesquieu, Espr. d. Lois I, cap. 3. Ward, Inqu. into the Law of Nations, I, 156. K. Th. Pütter, Beitr. zur Völkerr. - Gesch. Leipz. 1833. S. 50 ff. Ueber das Völkerrecht der Chinesen, Hindu und Perser H. Ph. E. Haelschner, de iure gent. ap. gentes Orientis. Hal. 1842. Ueber Völkerr. d. Wilden und Halbwilden: Fallati, in d. Tüb. Zeitschr. f. Rechtswissensch. 1840.

2) Wegen der verschiedenen Theorien über diesen Gegenstand ist auf § 9 und die dazu gegebene Literatur zu verweisen. Sehr unvollkommen hat den Verfasser der gegenw. Schrift Mr. Wheaton in f. Elemens du droit internat. Leipz. 1848. I, p. 18 verstanden.

3) UBI SOCIETAS IBI IUS EST.

setzt sich zunächst sein Recht gegen Andere selbst; giebt er die Isolirung auf, so bildet sich im Verkehre mit den anderen ein gemeinsames Recht, wovon er sich nicht wieder lossagen kann, ohne seine Existenz und seinen Zusammenhang mit den anderen aufzuopfern oder doch in Gefahr zu bringen. Mit der Bildungsstufe der Völker hat dieses Recht eine bald engere bald weitere Umfassung. Es be= ruhet zuerst nur auf äußerer Nothwendigkeit oder äußerlichem Nußen. In höherer Entwickelung nimmt es aber auch das sittlich Nöthige und Nüßliche in sich auf; es stößt das Unsittliche allmählich von sich aus und fordert ein in diesen Grenzen gehaltenes Handeln. In der That beruht es daher auf einem allseitigen ausdrücklichen oder doch mit Gewißheit vorauszuseßenden Einverständniß (consensus) innerhalb eines gewissen Staatenkreises, auf der Ueberzeugung, daß jeder seiner Theile unter gleichen Umständen dieselbe Nöthigung so und nicht anders zu handeln empfinden werde, es feien nun die Beweggründe äußerliche, oder moralische. Fremd ist dagegen dem Völkerrecht eine gesetzgeberische von höherer Gewalt ausgehende Gestaltung, da die Staaten in ihrer Unabhängigkeit keiner gemeinsamen irdischen Obrigkeit unterworfen sind. Es ist das freieste Recht, welches existirt; es ermangelt in der Anwendung sogar einer organischen selbständigen Richtergewalt. Aber als Organ und Regulator dient die öffentliche Meinung, als Schuß die Staatengenossenschaft und das letzte Gericht ist die Geschichte, welche als Dike das Recht be= stätigt und als Nemesis das Unrecht ahndet. Seine höchste Sanction ist die Weltordnung, welche, indem sie den Staat sezte, dennoch nicht die menschliche Freiheit in Einzelstaaten gebannt und damit abgeschlossen, sondern dem Menschengeschlecht den ganzen Erdball erschlossen hat2; seine Bestimmung: der allseitigen Entwickelung des

1) Mehrere, besonders Britische Rechtsgelehrte, z. B. Rutherforth, Institutes of nat. law. II, 5, leugnen deshalb dem äußern Staatenrecht jeden positiven Charakter ab. Sie sahen nicht, daß das Recht überall auch in den Staaten selbst, wenigstens zum größten Theile, ohne den Einfluß einer höheren Gewalt entstanden und befestigt war, jenes ius non scriptum, quod consensus fecit. Nichtiger hat Mr. Austin (Province of iurispr. determ. Lond. 1832) die Sache durchschaut.

2) Sehr schön äußert sich hierüber mit Cic. de off. 3, 6. Lactant. div. Instit. 6, 6.

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