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Je mehr diese Lehren aber gegen die Wirklichkeit anstießen oder der Willkür der Macht das Feld ebneten, desto mehr fanden sie Widerstand. Der größere Theil der Rechtsgelehrten bewegte sich lieber auf dem bequemeren und praktischen Boden der Grootischen Anschauung, legte auch dem Positiven eine Verbindlichkeit bei und betrachtete das s. 8. natürliche Recht der Einzelnen und der Völker als eine unmittelbar verbindliche, wenigstens als eine subsidiarisch giltige Quelle. In diesem Sinne lehrte und schrieb zunächst nach Groot der Brite Richard Zouch (1590—1660)'. Auch die Philosophen kamen bald hiebei zur Hilfe, vorzüglich Christian Friedrich v. Wolff (1679—1754), welcher sich im Wesentlichen mit Groot einverstanden zeigte'. In ähnlicher Weise dachten und schrieben Hermann Friedrich Kahrel (1719—1787), Adolph Friedrich Glafeh (1682-1754)3, vorzüglich Emerich von Vattel, ein Schweizer (1714-1767), dessen Werk*, ganz dem System Wolf's entsprechend, nur durch seine gefällige und praktische, obgleich oft seichte Weise sich einen Plaz neben Groot in den Bibliotheken der Staatsmänner verschafft hat; außerdem T. Rutherford, J. J. Burlamaqui® und Gerard de Rayneval'.

Noch weiter in dem Gegensatz zu Pufendorf gingen die vorzugsweisen Anhänger des historisch-praktischen Rechtes, unter denen sich wieder zwei Fractionen unterscheiden lassen: nämlich die reinen Positivisten, welche nur ein durch Herkommen oder Verträge bestätigtes internationales Recht anerkennen, ein Naturrecht oder natürliches Völkerrecht aber ganz ignoriren oder dahingestellt sein lassen,

1) Iuris et iudicii fecialis sive iuris inter gentes et quaestionum de eodem explicatio. Zuerst Oxon. 1650 und nachher sehr oft. v. Ompteda § 64. 130. Wheaton Hist. du progr. p. 45 (I, 141).

2) Sein Hauptwerk: Ius gentium methodo scientifica pertractatum. 1749. Darüber v. Ompteda § 93 f. Wheaton, hist. du progrès. p. 121 (I, 227).

3) Sein Vernunft- und Völkerrecht erschien 1723. Sein Völkerrecht 1752. 4) Le droit des gens. Zuerst 1758; mit Noten von Pinheiro Ferreira. Paris 1838. Darüber v. Ompteda § 99. Wheaton p. 127 (I, 236).

5) Institutes of natural law. 2 Vols. Lond. 1754.

6) Principes ou éléments du droit politique. Zuerst Genève 1747, zuletzt Lausanne 1784. In Gr. Britannien viel gebraucht.

7) Institutions du dr. de la nature et des gens. à Par. an XI (1803) und 1832.

und andrerseits diejenigen, welche zwar in dem Völkerwillen allein den Grund eines praktischen gemeinsamen Rechtes finden, denselben jedoch nicht blos in äußeren Manifestationen suchen, sondern in der Nothwendigkeit der Dinge, in den Standpunkten und Verhältnissen, worin die Nationen zu einander treten, als von selbst gegeben entdecken, somit zwar kein absolut verbindliches ius naturale, wohl aber die naturalis ratio der Personen, Dinge und Verhältnisse, oder auch überhaupt das Wollen der Gerechtigkeit, in den Willen der Nationen eingeschlossen betrachten.

Zur letteren Fraction gehörte bereits Samuel Rachel (1628 bis 1691), der unmittelbare Gegner Pufendorf's1; sodann Johann Wolfgang Textor (1637-1701) mit einigen Andern. Zur Fraction der reinen Positivisten hingegen, den Männern des Herkommens, der Geschichte und Praxis: Cornelius van Bynkershoek (1673 bis 1743)3, der Chevalier Gaspard de Real'; in Deutschland J. J. Moser (1701-1786), der sich fast nur an äußere Thatsachen hielt*; sodann beinahe die ganze neuere publicistische Schule, nachdem Kant das Naturrecht gestürzt, das Recht von der Ethik und Speculation getrennt und lediglich der positiven Willkür überwiesen hatte. In diesem Sinne lehrte und schrieb Ge. Friedr. v. Martens (1756 bis 1821), der das gegenseitige Recht der Nationen wesentlich auf Verträge und die daselbst angenommenen Grundsäße baute°; ferner Carl Gottlob Günther (geb. 1772); Friedrich Saalfeld (Göttingen 1809), Theodor Anton Heinrich Schmalz (1760-1831), Johann Ludwig Klüber (1762—1835), Julius Schmelzing, Carl Heinrich Ludwig Pölig (1772-1834) und Carl Salomo Zachariä (1769—1843), bei denen überall das natürliche oder philosophische Völkerrecht höch

1) Ueber ihn und seine Ansichten vgl. v. Ompteda § 73.
2) S. ebendas. § 74. 75.

3) Hauptschrift: Quaestionum iur. publ. Libri II. Lugd.-B. 1737 und öfter. Vgl. v. Ompteda § 150. Wheaton, histoire I, 244 und intern. Law. § 7.

4) In seinem 1754 erschienenen Werk: La science du gouvernement. P. V. 5) Hauptschrift dieses unermüdlichen Publicisten: Versuch des N. Europ. Bölkerrechts 1777-1780. X Thle. S. außerdem v. Ompteda § 103. v. Kamph N. Lit. § 35.

6) Seine Ansichten sind zuerst dargestellt in einem zu Göttingen erschienenen Programm v. d. Existenz eines positiven Europ. Völkerrechts. 1784. Seine Schriften in v. Kampt N. Lit. § 35 u. s. f.

stens als influenzirendes Motiv des Positiven, oder auch als subfidiarisches Recht im Fall der Noth angesehen wird,, ohne daß man sieht, wie es zu dieser Ehre kommt, worauf es sich stützt, und ohne daß die vorgetragenen Lehren durchgängig als positive dargethan werden können. Als Gegner dieses Systems ist in neuester Zeit Pinheiro Ferreira in seinen Commentarien zu v. Martens aufgetreten', im Geist der zuvor erwähnten Fraction, welche eine wissenschaftliche Reflexion und Polemik nicht entbehren will, wogegen Mr. Wheaton sich wesentlich auf die Seite der Praxis und Positivisten gestellt hat, ohne sich der recta ratio, §. i. der Kritik aus den höheren Gesichtspunkten einer allgemeinen Gerechtigkeit zu verschließen. Denselben Standpunkt nehmen im Ganzen auch die neuesten Bearbeitungen des Völkerrechtes durch Französische, Britische und Spanische Schriftsteller 3.

Am entferntesten von allen bisher geschilderten Fractionen stehen diejenigen, welche das Völkerrecht nur von dem Interesse der Staaten abhängig machen, sei es von den Individual-Interessen jedes Einzelstaates*, oder von den allgemeinen Interessen aller Staaten,

1) Le droit des gens p. G. Fr. de Martens, avec des notes p. Pinh. Ferreira. 1831. 2 ts.

2) Elements of the intern. law. Lond. 1836. 2 vls., jezt 6. Ausg. Boston, v. Lawrence. Französische Bearbeitung unter dem Titel: Élémens du dr. intern. Leipz. Par. 1848.

3) Es mögen hier angeführt werden die Franzosen: Du Rat-Lasalle, Droit et législation des armées de terre et de mer, woselbst t. I, p. 370 ein Précis du droit des gens; vorzüglich Theodore Ortolan, Règles internationales de la mer. Par. 1845. Die Briten: Oke Manning, Commentaries on the Law of Nations. Lond. 1839. James Reddie, Researches in maritime Intern. Law. Edinb. 1844. 1845. 2 vls. Wildman, Intern. Law. Lond. 1849. 2 vls. Rob. Phillimore, Commentaries upon Intern. Law. Lond. 1854. 1855. 1857. 3 vls. Der Südamerikaner Andr. Bello, Principios de Derecho de Gentes, publ. en Santiago de Chile. reimp. Par. 1840. Der Spanier: Jose Maria de Pando, † 1840. Elementos del Derecho Intern. Madr. 1843. und Antonio Riquelme, Elementos de Derecho Publ. internacional, con explication de las reglas que constituyon el dereche internacion. Espagnol. tom. I. II. (appendice). Ueber die Verdienste der Niederländer 2c. vgl. Did. van Hogendorp, Comm. de iuris gent. studio in patria n. post Hugonem Grot. Amstelod. 1856.

4) Der Vorwurf eines nationalen Egoismus kann am Meisten den Schriftstellern über das Seerecht gemacht werden, (wovon unten) namentlich den Britischen,

wie Montesquieu', in neuerer Zeit Jeremias Bentham2. Das wahrhaft Nüßliche ist zwar mit dem sittlich - nothwendigen identisch; es finden jedoch über Jenes gar leicht Mißverständnisse statt3.

Auch die neueste Philosophie hat den Streit der Systeme und Principien noch nicht beseitigt. Sie glaubt entweder mit Schelling an eine Gefeß- Offenbarung des göttlichen Geistes für die Nationen, oder sie vindicirt mit Hegel auch das Völkerrecht der menschlichen Freiheit, dem Willen, der sich selbst das Recht sett oder in Gemeinschaft mit anderen bildet.

Unsere Ueberzeugung haben wir schon oben (§§ 2. 3) ausgesprochen*.

III.

Die Specialrechte der Nationen unter einander.

Natur derselben.

10. Unter der Aegide des gemeinsamen Völkerrechtes entstehen die Einzelrechte der verschiedenen Staaten und zwar theils schon von selbst mit dem Eintritt oder Dasein gewisser Verhältnisse, theils durch besondere Erwerbung (§ 11). Ihrem Inhalte nach haben sie entweder die Erhaltung der Existenz, sowie die Beförderung materieller Interessen zum Gegenstand, oder nur die Würde der einzelnen Nationen. Lezteres sind die in der diplomatischen Sprache f. g. Ceremonialrechte (droits de cérémonie, droits cérémoniels), die entweder ganz für sich bestehen, oder, wie häufig der Fall ist, nur die weitere formelle Ausbildung eines an sich nothwendigen Rechtsver

während sich die Französischen in neuerer Zeit mehr dem cosmopolitischen Standpunkt mit den Deutschen und Skandinavischen Schriftstellern zugewendet haben. 1) De l'esprit des lois. I, 3.

2) Jerem. Bentham, Principles of internat. Law. (Works, coll. u. s. of J. Bowring. P. VIII, p. 535 s.)

3) Gute Bemerkungen darüber s. 6. Oke Manning, p. 58 s.

4) Eine sehr dankenswerthe Uebersicht der verschiedenen Theorien giebt Warnfönig in der Tübinger Zeitschr. f. R.-Wissensch. VII, 622 f.

hältnisses sind. Von ihnen wird in der Folge nur in so weit die Rede sein, als sie dem internationalen Rechtsgebiet wirklich ange= hören, d. h. so weit Staaten und Regierungen gegen einander darauf zu bestehen ein Recht haben, keineswegs aber von dem ganzen s. g. Ceremoniel der Höfe, Staatsbehörden u. s. w. in auswärtigen und einheimischen Verhältnissen, so weit solches von der eigenen Willkür jedes Staates abhängig ist1.

Besondere Entstehungsgründe der Einzelrechte der Staaten.

11. Rechtsverhältnisse einzelner Staaten, welche nicht schon nach gemeingiltigen Grundsäßen des Völkerrechtes von selbst existiren, können begründet werden:

1. durch Verträge der Betheiligten;

2. durch Occupation, d. h. durch Besißaneignung, welcher kein schon vorhandenes Recht eines Andern entgegenstehet,

von welchen beiden noch in der Folge ausführlich zu handeln ist. Außerdem läßt sich eine giltige Rechtsbehauptung nur noch stüßen 3. auf unvordenklichen Besitzstand;

4. auf Herkommen oder Observanz, wenn ein Staat gegen den Andern oder wenn mehrere unter sich gegenseitig durch eine oder mehrere Handlungen die Anerkennung einer dauernden Verpflichtung unzweideutig dargelegt haben, ohne dabei in einem Irrthum oder in einem Zwange begriffen gewesen zu sein2; 5. auf Besißergreifung einerseits und ausdrückliche oder stillschweigende Aufgebung des bisherigen Rechtszustandes andrerseits. Dagegen kann weder von s. g. vermutheten oder vorausgeseßten stillschweigenden Conventionen als einer Quelle von Specialrechten die Rede sein, wenn man darunter nicht etwa den fünften Fall oder die

3

1) Wir gebrauchen hier das Wort Ceremonialrecht hauptsächlich in demjenigen Sinne, worin man auch von einem s. g. Ceremonial - Charakter der diplomatischen Personen spricht. Klagen über Mißverstand des Wortes und über ungebührliches Hineinziehen des ganzen Ceremoniels in das Völkerrecht finden sich schon in v. Ompteda Lit. § 206.

2) S. vorzüglich Günther Eur. Völkerr. I, S. 16—20. 28-31. Martens nahm nur eine unvollkommene Verbindlichkeit des Herkommens an. Völkerr. § 30. 3) Dagegen bereits Klüber, Dr. d. g. § 3. Martens begriff darunter hauptsächlich den obigen fünften Fall.

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