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kennen. Zuweilen wird selbst längere Beobachtung des ganzen Systems eines Hofes doch nur Vermuthungen an die Hand geben und ein Irrthum sehr zu entschuldigen sein. Gewiß ist aber auch Vorsicht gegen Uebereilungen und gegenseitige Offenheit geboten1.

Daß der bedeutende, obwohl völlig legitime Anwachs einer einzelnen Macht, weil sie in der Folge einmal gefährlich werden könnte, noch keinen Zustand der Nothwehr oder eines rechtmäßigen Krieges hervorrufe, beruhet auf dem Mangel an den erforderlichen Bedingungen der Nothwehr, hauptsächlich eines wirklich zu befürchtenden unrechtmäßigen Angriffes. Auch kann das Colossale einer Macht noch nicht als ein schon vorhandener Nothstand für die Uebrigen angesehen werden. Unbedenklich liegt es aber in deren Befugnissen, jeder ferneren Vergrößerung einer Macht, wozu sie noch keinen unbestrittenen Titel hat, z. B. Vermählungen, Ceffionen u. dergl., zu verhindern zu suchen, ohne daß darin an und für sich eine Beleidigung gefunden werden kann.

Auf ähnliche Weise verhält es sich mit der Frage, ob bevorstehende oder schon eintretende Aenderungen des momentanen Gleichgewichtes der Staaten den dadurch möglicher Weise in Gefahr gerathenden ein Recht zum thatsächlichen Widerstande geben. Beruhet die Veränderung auf bereits vorhandenen rechtmäßigen Titeln, so wird jeder Widerstand in der Regel unrechtmäßig sein; außerdem aber kann die Präventivpolitik ihre ganze Thätigkeit zur Hinderung des Bevorstehenden entwickeln3.

Die Linie zwischen Recht und Noth liegt freilich außer dem Kreise richterlicher Beurtheilung. Aber deutlich erkennbare Bestrebungen einer Macht zur Begründung einer Universalmonarchie verseßen unbedenklich alle übrigen in den Fall eines Nothstandes.

1) Ueber das hier eintretende Fragerecht s. unten bei der Materie der Intervention § 44 f.

2) Die verschiedenen Ansichten sind zusammengestellt bei Günther I, S. 362 ff. 3) Hier ist vorzüglich die Coalitionspolitik an ihrem Ort. Darauf beruhten unter Anderem die großen Coalitionen in Betreff der Spanischen Monarchie vor Absterben König Carl II., der Deutsche Fürstenbund von 1785, die Coalition gegen Napoleon I. u. s. f.

c. Das Recht eines freien staatlichen Waltens.

Droit de souveraineté.

31. Ein weiteres Recht jedes Staates ist eben das, seine Aufgabe als besonderer Staat mit Selbstbestimmung zu erfüllen. Jeder Staat kann sich demnach selbst eine bestimmte Form geben, und zwar zuerst eine bestimmte Regierungsform. — Unbedenklich ist ferner, daß jeder Staat sich selbst und seinen Autoritäten einen bestimmten Namen und Titel, so wie gewisse äußere Insignien, Wappen1 u. dergl. beilegen und gebrauchen kann2. Ein willkürliches Widerspruchsrecht oder Urtheil steht rücksichtlich der Annahme solcher Wahrzeichen anderen Staaten an und für sich nicht zu; sondern es kann dieselbe nur unter folgenden Voraussetzungen angefochten werden:

Erstens, insofern Tractaten oder hoheitliche Beziehungen zu anderen Staaten (§ 18 f.) entgegenstehen;

Zweitens, insofern bereits anerkannte Wahrzeichen fremder Staaten angenommen werden;

Endlich überhaupt, wenn andere Mächte zur förmlichen Beachtung des angenommenen Titels, Namens und der damit verbundenen herkömmlichen Prärogativen verpflichtet sein sollen.

Eine derartige Verpflichtung kann durch das eigene Handeln eines Staates anderen nicht auferlegt werden. Es ist also von selbst die Nothwendigkeit gegeben, sich die Anerkennung wenigstens der= jenigen Staaten zu verschaffen, welche ein Interesse und auch wohl die Macht haben, einen Widerspruch geltend zu machen. Gleiches gilt von Veränderungen bisheriger Titel, Wappen und anderer Kennzeichen3. Dies ist auch die wirkliche Staatspraxis*.

1) Die Staatspraxis richtet sich dabei, versteht sich zwangslos, nach den Regeln der Heraldik oder s. g. Wappenkunst, l'art du blason. Eine Nachweisung der darauf bezüglichen Schriften s. in Berend, Allgem. Schriftenkunde der Wappent. 1835. 3 Thle. Lower, Curiosities of Heraldry. Lond. 1845. Die Geschichte des Wappenwesens s. in der Deutschen Viertelj.-Schr. Nr. 64 (1853).

2) Vattel II, 3, § 41 f. de Réal, Science du Gouv. V, 5, 6. Günther, Völkerr. II, 4, 1.

3) Schmelzing, Europ. Völkerr. § 40. Schmalz, Völkerr. S. 182. 4) Bemerkenswerth sind in dieser Beziehung die Verhandlungen wegen des Preußischen Königs- und Russischen Kaisertitels. Specielle Gründe des Widerspruchs können sein: offenbare Verkleinerung der conventionellen Bedeutung des

Titels durch Annahme desselben ohne zureichende Grundlage und Mittel zu seiner

Von selbst versteht sich endlich, daß jeder Staat für sich selbst Herr in seiner inneren Verwaltung und in seinem Verhalten zu auswärtigen Mächten ist, überhaupt bei Ausübung aller inneren und äußeren Hoheitsrechte. Die natürlichen und positiven Modificationen dieser Machtvollkommenheit werden später ihre Stelle finden.

II. Recht auf Achtung.
Phillimore II, 33.

32. Will oder kann ein Staat nicht völlig isolirt von allen übrigen bestehen, so muß er auch das Dasein derselben anerkennen und als der Weltordnung angehörig achten, wie bei dem einzelnen Menschen gleichfalls das Recht auf Achtung seine Ehre mit dem physischen Dasein beginnt. Verweigern kann sie dem anderen Staate nur derjenige, welcher dessen Legitimität zu bestreiten berechtigt ist und vermag, damit aber auch jeder Verbindung mit demselben entsagen muß.

Die dem Rechte auf Achtung entsprechenden Verpflichtungen sind nun theils positiven, theils negativen Inhaltes. Im Wesentlichen sind es diese:

I. Achtung des fremden Staates in seiner physischen Existenz. Darum darf keiner den anderen vernichten wollen, wenn es nicht die Selbsterhaltung nöthig macht (§ 30); Unrecht wäre ein Aushungerungssystem gegen einen anderen, vielleicht ganz enclavirten Staat, der in sich selbst keine genügenden Subsistenzmittel besißt, durch Verschließung oder Ueberlastung jedes Handelsverkehres, jeder Zufuhr1.

II. Achtung der rechtlichen Staatspersönlichkeit des anderen, d. H. aller mit dem Bestehen eines Staates an sich oder in seiner

würdevollen Aufrechterhaltung; Emporhebung über andere Staaten und daher Zurücksetzung derselben. Daß der Römische Stuhl ein Verleihungsrecht von politischen Titeln habe, wie früher wohl behauptet und in Anspruch genommen worden ist, wird schwerlich in unserer Zeit noch vertheidigt werden. Preußische Publicisten haben den letzten Kampf darüber geführt. S. bef. de Ludewig, Opusc. miscell. I, p. 1 u. 129. Wichtig ist eine Beschlußnahme der Bevollmächtigten am Nachner Congreß in dem Protokoll vom 11. October 1818. S. die Anlagen.

1) Vgl. Vattel II, 134. Eine bloße Vertheuerung der Zufuhr über das bisher Gewöhnliche, z. B. durch Zollerhöhung, ist noch keine Rechtsverletzung.

besonderen Kategorie gegebenen Rechte, so lange ihre Ausübung nicht die richtige Grenze überschreitet oder mit den diesseitigen in Conflict geräth; daher also auch

Beobachtung der herkömmlichen Ehrenbezeigungen und Ceremonial - Verpflichtungen; Unterlassung aller eigenmächtigen Handlungen, wodurch Rechte des anderen usurpirt oder gehindert werden', wiewohl ohne die Verbindlichkeit, ihre Ausübung zu befördern und zu unterstüßen; sodann

Achtung für alles dasjenige, was ein anderer Staat durch Gebrauch seiner Rechte in seinem eigenthümlichen Gebiet geschaffen oder sanctionirt hat, in so weit dasselbe in den internationalen Verkehr eingreift, desgleichen alsdann, wenn in dem anderen Staate selbst Rechte gesucht oder vertheidigt werden sollen, ohne daß jedoch außerdem den ausländischen Rechtsverhältnissen eine gleiche oder überhaupt eine rechtliche Wirksamkeit zu gestatten ist3.

III. Achtung der sittlichen Würde, welche jedem Einzelstaat als Glied der Weltordnung gebührt, so fern er sich dieser Achtung nicht durch illegitimes Handeln unwürdig macht.

Kein Staat darf somit den anderen auf eine geringschäßende verächtliche Weise behandeln, wiewohl er ihm auch keine höhere Bedeutung zuzugestehen hat, als in dem Wesen des Staates an sich begründet ist. Keine Nation hat das Recht, als die größeste, tapferste, ruhmvollste oder tugendhafteste von den anderen anerkannt zu werden*; nur als rechtlich bestehende und handelnde, so lange sie dieses ist. Natürlich wird jedoch durch Eine unrechtliche Handlung der Anspruch auf Achtung nicht für immer verwirkt; aber der Tadel des Unrechtmäßigen selbst kann dem freien Urtheil der Anderen nicht entzogen

1) Jede Negation oder Beeinträchtigung der Rechte und Institutionen anderer Staaten ist eine Beleidigung, z. B. die Nachprägung der Münzen eines Staates, besonders mit Verringerung des Gehaltes; eben so der Mißbrauch seines Wappens, seiner Flagge, überhaupt jeder Betrug. Vgl. Vattel I, § 108.

2) So kann kein Staat im internationalen Verkehr die Verfassung des anderen ignoriren, wenn er sie nicht anzufechten berechtigt ist.

3) Das Nähere hiervon unten bei der Collision der Staatenrechte. § 34 f. 4) Freilich darf auch keiner Nation der Anspruch auf Ruhm positiv abgesprochen werden. Dies meint wohl Vattel I, 190, wo er jede attaque à la gloire d'une nation für eine Ehrenkränkung zu erklären scheint.

werden'. Wo sollte die Lüge aufhören, wenn sie der Wahrheit nicht in den Trägern der Weltgeschichte Raum gestatten müßte? Eben deshalb kann auch jede Staatsgewalt fordern, daß ihren Worten und Erklärungen, die sie giebt, von anderen Mächten Glauben beigemessen werde, so fern sie auch ihrerseits Treue und Glauben bewährt.

Was übrigens ein Staat oder seine Regierung selbst gegen andere Staaten zu beobachten und zu unterlassen hat, muß oder sollte er doch von seinen Angehörigen gleichfalls beobachten lassen und nicht dulden. Allein bis auf diesen Augenblick hat sich wenigstens die Gesetzgebung der Einzelstaaten nur wenig oder gar nicht mit einer Sicherstellung anderer Staaten gegen mögliche Verlegungen beschäftigt3. Einer wartet hier meist auf den anderen. Nur Bundes

1) Peccata nocentium nota esse et oportet et expedit. L. 18 D. de injur. Ueberhaupt treten hier die Grundsäße der Privatinjurien in Anwendung. 2) Schriften hierüber s. in v. Kampß Lit. § 93.

3) Der Egoismus der Staatspraxis ist zuweilen so weit gegangen, die Eristenz anderer Staaten und ihrer Rechte ganz zu ignoriren. So hat man z. B. Einschmuggelungen in fremde Staatsgebiete, selbst in der gerichtlichen Praxis, nicht selten für etwas ganz erlaubtes betrachtet, dessen man sich nicht einmal zu schämen brauche. Ein anderes System hat der Gerichtshof, dessen Mitglied zu sein Verfasser die Ehre hatte, in Betreff der Frage angenommen, ob ein Schmuggelvertrag nach dem Ausland hin den guten Sitten zuwider sei, und diese Frage bejaht, aus folgenden Gründen, welche wesentlich die obigen Grundsätze des Paragraphen bestätigen:

,,In Erwägung, daß dem Revisions- und Cassationshofe die Beurtheilung der Frage nicht entzogen ist: ob eine Convention den guten Sitten zuwider sei? indem es sich dabei nicht von zufälligen Vorstellungen, sondern von feststehenden Begriffen handelt, die, wo sie das Gesetz berücksichtigt, auch als Theil von diesem selbst anzusehen sind;

daß nun aber der Begriff des sittlich Erlaubten oder Unerlaubten nicht blos auf das Gebiet eines bestimmten einzelnen Staates beschränkt und damit abgeschlossen werden kann;

daß die Sittlichkeit des Willens, welche die Grundlage der guten Sitten ist, wesentlich auch darin besteht, Niemand in seinem Recht zu verletzen und sich dadurch nicht mit dem Schaden des Anderen zu bereichern;

daß nun jeder Einzelstaat das unbestreitbare Recht hat, von den aus dem Auslande einzuführenden Waaren Nachweisungen zu fordern und Abgaben zu erheben;

daß zwar andere Staaten die Ausübung dieses Rechtes nicht zu erleichtern oder zu unterstüßen haben, eine Beeinträchtigung desselben aber nichts desto weniger ein Unrecht bleibt, folglich auf Seiten desjenigen, der sie vorsätzlich, besonders aus Eigennut, unternimmt oder vertragsweise veranlaßt, eine unläugbare Unsittlichkeit darstellt:

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