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Vor kurzem *) war in ein paar Zeitschriften die

dürre Notiz zu finden, dass am 26. März dieses Jahres einer der hervorragendsten Dichter Nordamerikas, Walt Whitman, im 74. Jahre seines Lebens zu Camden bei Philadelphia gestorben sei. Die paar Daten über sein Leben und Schaffen, die jener Notiz beigefügt waren, konnten mit ihrem litteraturlexikalischen Lakonismus unmöglich geeignet sein, ein weiteres Interesse für den Verstorbenen wachzurufen.

Ein solches erscheint aber um so wünschenswerter, als über einen Dichter, der nicht allein der hervorragendste Nordamerikas ist, sondern mit seinen Werken der Weltlitteratur angehört, und zwar, wie es uns scheint, mit grösserer Berechtigung als beispielsweise sein Landsmann Edgar Poe, den sozusagen alle Welt kennt, bisher verschwindend wenig Belangvolles in deutscher Sprache geschrieben ist.

*) Dieser Aufsatz stammt wie der folgende aus dem Jahre 1892.

Ein Aufsatz, den F. Freiligrath über Withman in der Nummer der „Allgemeinen Zeitung" vom 18. Mai 1868 brachte, eine kleine tüchtige Broschüre ,,H. B. Coterill und T. W. Rolleston, Ueber Wordsworth und Walt Whitman. Zwei Vorträge. Dresden. Carl Tittmann 1883", die Einleitung zu der auszugsweisen Uebersetzung von Whitmans „Leaves of Grass“, die Karl Knortz und T. W. Rolleston 1889. im Verlag von Schabelitz in Zürich erscheinen liessen, das ist so ziemlich alles, was wir von Litteratur über Whitman bei uns in Deutschland zu nennen wüssten.

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Unser Aufsatz nun erhebt keine Prätensionen. Er soll sein" bescheiden Teil dazu beitragen, für Whitman ein weiteres Interesse zu wecken, indem er ein kurzes Bild von der Eigenart des Dichters zu geben versucht, so weit sich ein solches aus der oben erwähnten, nicht vollständigen Uebersetzung der Grashalme" gewinnen liess. In ihr können übrigens Interessenten eine ausführlichere Bibliographie von Whitmans Werken und der über ihn. geschriebenen Bücher und Abhandlungen finden.

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Im dem Vorwort zu der Uebersetzung nennt

einer der Uebersetzer, Karl Knortz, Whitman den

,,Optimisten par excellence". Aber dieser Redensart müssen wir wohl schon den Laufpass geben. In diese enge Hülse bekommen wir den ganzen Whitman nicht hinein. Mit dem Schlagwort irgend eines Standpunktes lässt sich schlecht etwas anfangen einem Menschen gegenüber, der von sich die stolzbescheidenen Worte sagen darf:

,,I do not trouble my spirit to vindicate itself or to be understood, I see that the elementary laws never apologize."

Die Uebersetzer haben sie dem Buch als Motto vorangesetzt und sie bezeichnen Whitman besser, als dieses staubtrockene „Optimist par excellence". ,,Ich bemühe meinen Geist nicht sich selbst zu rechtfertigen oder verständlich zu machen,

Ich sehe, dass die Urgesetze sich niemals entschuldigen."

Wenn diese Worte aber seine Art bezeichnen, so ist er mehr als Pessimist oder Optimist: dann fühlt er sich selbst als Kraft und im lebendigen, organischen Zusammenhange mit aller Natur, dann kann er sich freilich auch nicht verneinen, wie so viele Invalidität des Romantizismus und Christianismus, an welcher die ,,alte Welt" zu diesen Zeitläuften laboriert, und die grade noch Lunge genug hat, um mit allen möglichen Blasphemieen die zu hoch hängenden Trauben sauer zu schelten.

Wie die mächtigen Dithyramben neuen Lebens und neuer Kraft ertönen seine „barbarischen Gesänge über die Dächer der Welt", mitten hinein in so viele Sterbelieder der alten Welt und verkünden neue Religion, neue Kunst und einen neuen Wert des Lebens.

Nicht Optimist und nicht Pessimist ist Whitman: er ist Kraft.

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Geboren wurde Walt Whitman 1819 auf Long Island, wo seine Familie einen grossen Meierhof besass, dessen Felder die Whitmans eigenhändig bestellten. Hier auf dem Lande, in der freien Natur, verlebte er den grössten Teil seiner Jugend. Später versuchte er sich dann, nach amerikanischer Weise, in den mannigfachsten Berufen, war Buchdrucker, Lehrer, Tischler, Redakteur, Bauunternehmer u. s. w., bis er schliesslich, ungeachtet er oft auf dem besten Wege war, bei dieser und jener Beschäftigung „sein Glück zu machen“ und ein reicher Mann zu werden, Schriftstellerei und alles andere resolut über Bord warf und dichtete. In den sechziger Jahren, nachdem eben die ,,Grashalme" erschienen waren, war er dann zur Zeit des Sezessionskrieges auf dem

Schlachtfeld und in den Armee-Spitälern Krankenpfleger. Seinen Unterhalt erwarb er sich während dieser Zeit durch Zeitungskorrespondenzen. Für die Dienste, die er auf solche Weise leistete, bekam er eine kleine Stelle im Ministerium des Innern, die er aber nicht lange behielt. Seine Absetzung hatte er dem Staatssekretär James Harlaam, einem früheren Methodistenprediger, zu verdanken, der über die 1855 erschienenen Grashalme" in sittliche Entrüstung geraten war. Freunde legten sich ins Mittel und er bekam eine neue Anstellung im Büreau des AttorneyGenerals, die er bis 1873 inne hatte. In dieser Zeit wurde er von einem Schlaganfall getroffen. Seine Gesundheit war durch die Strapazen der Kriegszeit untergraben. Allmählich erholte er sich, ohne jedoch seitdem die Folgen seiner Krankheit ganz überwinden zu können. Später war es ihm gelungen, sich in Camden bei Philadelphia ein kleines, sehr bescheidenes Heim zu gründen und hier hat er, ohne Bitterkeit und Klage dem Leben gegenüber, seine besten Dichtungen verfasst, die eine besondere religiöse Weihe zeigen", damit ich Rolleston citiere, dessen Einleitung zu den „Grashalmen“ ich im wesentlichen diese knappe Skizze von Whitmans Lebensgang verdanke, „eine ruhige, verklärte Schönheit, welche mit der Stimmung der früheren Ge

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