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Zu achten ist die Wissenschaft, erhaben ist es, einen Mann und ein Weib im Uebermass zu lieben, aber es giebt ein Anderes, das wahrlich erhaben ist und das Ganze eint, herrlich für alle sorgt mit nimmermüden Händen: das ist die Religion. Nicht der Kult, das Dogma mit seinen Imperativen: sondern das mächtig gespannte Lebensgefühl, dessen Kraft das All mit Liebe und Staunen umfasst, das religiöse Gefühl, dass innige, jauchzende, intime Bewusstsein der Einheit mit allem. Einzig „den Samen einer grösseren Religion in die Welt zu streuen“ singt er seine Gesänge. Ohne sie giebt es keine des Namens würdige Grösse, keinen Staat, keinen Charakter, kein Leben. Er betet nicht, verehrt nicht, katzenbuckelt nicht vor den ewigen Gesetzen und macht keine Ceremonieen mit. Seine Verehrung ist die rasende Lust, mit der Atmosphäre in Berührung zu kommen, jauchzend sich in die mächtige Bewegung des Lebens zu stürzen, in sein Werden und Vergehen, sein Blühen, Leuchten, Brausen, Wachsen und Glühen.

Religion ist das mächtige Empfinden, das ihn bewundernd vor dem Kreislauf der Gestirne, vor der Herrlichkeit des menschlichen und tierischen Körpers stehen lässt, so dass er in einem Gesange ,,Ich singe den Leib, den elektrischen" - Seiten lang mit

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verzücktem Stammeln, wie ein Kind, das mit unsäglichen Wonnen etwas benennt und in diesen unaufhörlichen Benennungen eine unendliche Lebensfülle fühlt und bezeichnet, alle Teile des menschlichen Körpers aufzählt, dass er an den nackten Leibern badender Jünglinge und ihren elastischen und jugendfrischen Bewegungen seine Freude hat. Religion ist es, wenn er Blumen und Gras zärtlich liebt. Sie ist es, die vor ihm den Umlauf der Sonnensysteme, den Kreislauf der Erde mit all ihren Wundern und ihrem Lebensgetriebe in gewaltigen Visionen sich ausbreiten lässt. Sie ist es, die ihn mit süssen Schauern in die Unendlichkeit des Kleinen, die unermesslichen Wunder des Geringen, Verschmähten, Verachteten sich versenken und ihn hier wie überall die gleiche, ewige Bewegtheit des Alllebens, keinem zählenden, abschätzenden Verstand begreiflich, finden lässt. Sie lässt ihn Werden und Vergehen menschlicher Kulturen bewundern, wie das Blühen der Blumen. Giücklich ist er, wenn er einen Körper betasten kann und die Berührung ihm mit ihrem Strom das Leben des Betasteten mitteilt. Die für den Verstand und das schwache Empfinden so ,,schreckliche Ungewissheit der Erscheinungen“ nimmt es ihm, wenn er bei Freunden weilen und ihre Hand in der seinen halten kann. Dann ist er voll

unausgesprochener

heiten.

und unaussprechlicher Weis

Hier ist das Werden dieser Empfindung.

„Ich glaube an dich, meine Seele! Das andre, das ich bin

darf sich vor dir nicht erniedrigen,

Noch darfst du vor dem andern erniedrigt stehen."

Die Seele ist diese mächtige Energie religiöser Begeisterung in ihm. Und nun mit seiner rücksichtslosen, sinnlichen, immerhin „brutalen“, immerhin gar „geschmacklosen" Verdeutlichung:

,,Strecke dich mit mir aufs Gras, öffne deine Kehle,

Nicht Worte, nicht Musik, noch Reime brauch' ich; keinen herkömmlichen Gebrauch, keinen Vortrag, auch nicht

den besten,

Blos das Lullen mag ich, das Gesumme deiner Stimmbänder.“

Und nun überkommt sie ihn, nimmt gänzlich von ihm Besitz.

„Ich gedenke, wie wir einst an einem so hellen Sommermorgen im Freien lagen,

Wie du dein Haupt quer über meine Hüften legtest, und dich leise auf mir umkehrtest,

Und mir das Hemd beim Brustknochen aufmachtest, und die Zunge bis in mein blossgelegtes Herz hineintauchtest, Und reichtest herauf, bis du meinen Bart fühltest, und hinunter, bis du meine Füsse hieltest."

Hinterwäldlerhaft, à la Cowboy, in dieser Weise das Allerfeinste, Allerintimste zu sagen: und doch mutet es bei ihm an mit seiner barbarischen, kerngesund-sinnlichen Frische und Energie.

,,Alsbald tauchte empor und verbreitete sich um mich her der Friede und das Wissen, das über alle Beweise der Erde hinausgeht.

Und ich weiss, dass Gottes Hand die Versicherung der mei

nigen ist,

Und ich weiss, dass der Geist Gottes der Bruder des mei

nigen ist.

Und dass alle Männer, je geboren, auch meine Brüder sind, und die Frauen meine Schwestern und Geliebten,

Und dass eine Kielschwinne der Schöpfung die Liebe ist,
Und unermesslich sind Blätter straff oder welkend auf den

Feldern,

Und braune Ameisen in den kleinen Gruben darunter,

Und der moosige Grind auf der Zickzack-Einfriedigung, und aufgehäufte Steine, Hollunder, Vollkraut und Kermesbeeren."

Er steht an der Brooklyner Fähre, sieht das Treiben des Verkehrs mit seinen hundert und aberhundert wechselnden Bildern; sieht Lichter, Farben, Menschen, Dampfer mit ihrem veilchenblauen Rauch, Männer und Frauen. Er sieht das alles, lebt sein Leben, geht in seinen Bewegungen, in seinem unaufhörlichen Wechselspiel auf, lebt mit denen, die

in gleicher Weise nach hundert Jahren verkehren werden. Und das nehme man nicht etwa bildlich und,,sozusagen", sondern schlicht und recht für so wirklich, als es gesagt und für sein Empfinden so und nicht nur halb oder zum Teil und sozusagen so ist. Denn für dieses Empfinden bedeutet die Anzahl der Jahrzehnte“ und „Jahrhunderte" nichts. —

Er wandert auf der ,,freien Strasse". Sie mit allen ihren Erscheinungen, Ost und West, Nord und Süd sind sein, er ,,atmet den Raum in grossen Zügen ein“. Ueberall ist er, überall. Obschon hier seines Weges gehend, lebt er das Leben aller Wesen; die ganze Welt mit all ihrer Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft sind seine Reisegenossen. Er ist Brahma, Saturn, alle Systeme und Glaubensbekenntnisse. Niedergeschlagenheit, Leidenschaften, Zornanfälle, Langeweile, Gemeinheiten, Schmerzen unbefriedigter Freundschaft: das alles kann ihm im Grunde nichts anhaben. Er sieht unzählige Gesichter, die vorübergehen: alte, junge, schöne, hässliche, männliche, weibliche, kranke und gesunde, böse und gute. Er sieht sie und ist mit ihnen allen zufrieden. Nicht weil er sie,,,als ihr eignes Finale dächte". Das ist eine elende Laus, die bittet und bettelt um ihr Leben"; ein andres „,eines Hundes Gesicht"; dort ,,ein Fallsuchtsgesicht", hier ,,dies Gesicht schuldet

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