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stärkeren Gegner blokirt sind. Deshalb ist man heute allgemein zu dem Ergebniß gekommen, daß es mit der Neutralität nicht vereinbar ist und nur zu Conflicten führt, wenn ein Staat versucht beide Kriegführenden gleichmäßig zu begünstigen.1)

1) Dies erkannte bereits Vattel: „Je dis, ne point donner de secours et non pas en donner également: car il serait absurde qu'un état secourût en même temps deux ennemis. Et puis il serait impossible de le faire avec égalité; les mêmes choses, le même nombre de troupes, la même quantité d'armes, de munitions etc., fournies en des circonstances différentes ne forment plus de secours équivalents (III., c. 7, § 104). Heute ist wohl Phillimore (III., § 154) der Einzige, der noch behauptet, daß ein beiden Theilen gleichmäßig erlaubter Durchmarsch mit der Neutralität verträglich ist.

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§ 140.

Werbungen und Ausrüstungen.

Truppenwerbung und Aushebung, Ausrüstung von Kriegsschiffen u. s. w. sind Befugnisse der Souveränetät. Wer sie auf seinem Gebiete einem anderen als seinem im Kriege Verbündeten gestattet, läßt seine Souveränetät ver lezen und dies widerspricht der Neutralität. Früher, wo die Heere aus Leuten der verschiedensten Länder zusammengesezt waren, war das Verbot der Werbung für fremden Kriegsdienst allerdings selten, heute aber bei der nationalen Gestaltung des Heerwesens ist es allgemein, und auch die Schweiz hat die erwähnten Capitulationen der Cantone abgeschafft. Als 1855 während des Krimkrieges Agenten des Englischen Werbeamtes in Halifax nach den Vereinigten Staaten kamen und mit Begünstigung der Englischen Consuln und des Gesandten zu werben suchten, beschwerte sich die Regierung von Washington mit Recht über diese Verlegung ihrer Neutralität. The United States constantly refuse the liberty of raising troops to all belligerents alike with impartial justice and that prohibition is made known to the world by a permanent act of Congress. Great Britain in attempting by the agency of her military and civil authorities in the British North American provinces, and her diplomatic and consular functionaries, in the United States to raise troops here, committed an act of usurpation against their sovereign rights." (Attorney-General's State Paper bei Twiss II., p. 456). Die Vereinigten Staaten konnten sich dabei auf ihre Neutralitätsacte vom 20. April 1818 berufen, welche H. jedem ihrer Bürger verbietet, einen Auftrag anzunehmen, der feindliche landlungen gegen eine befreundete Nation bezweckt; 2. jede Anwerbung an Bord eines fremden Kriegsschiffes oder Kapers für strafbar erklärt. 3. ebenso jede Ausrüstung oder Bewaffnung eines Schiffes im Dienite eines fremden Staates, um an Feindseligkeiten gegen eine Nation thei!

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zunehmen, mit der die Vereinigten Staaten im Frieden sind; 4. ebenso jede Organisation einer militärischen Unternehmung gegen irgend welche befreundete Nation. Nach diesem Vorgang richtete sich England wesent lich in seiner Foreign Enlistment Act bon 1819, und ähnliche Bestim= mungen erläßt jezt meist jede Regierung bei Ausbruch eines Krieges. Die Englische Acte von 1870 Art. 4 verbietet allen Britischen Unterthanen in einem Kriege, in welchem England neutral bleibt, in die Armee oder Flotte eines kriegführenden Staates zu treten oder Freiwillige zu werben ohne die ausdrückliche Erlaubniß der Regierung. Es war sicher eine Verlegung der Neutralität, als Lord Palmerston 1834 durch einseitige Suspendirung der Foreign Enlistment Act von 1819, die Ausrüstung eines Freiwilligencorps unter einem Britischen Officier gegen Don Carlos erlaubte, das auch von Lezterem als rechtlos behandelt ward. Als Griechenland 1868 offen den Candiotischen Aufstand durch Zuzug von Truppen unterstüßte, erklärte die Pariser Conferenz vom Januar 1869: „La Grèce devra d'abstenir désormais de favoriser ou de tolérer la formation sur son territoire de toute bande recrutée en vue d'une agression contre la Turquie." Unzweifelhaft ließen auch die Vereinigten Staaten ihr eigenes Gesez durch die Unternehmungen der Fenier gegen Canada und durch die Unterstützung der Cubanischen Insurgenten strafbar verlegen. Etwas anderes ist der vereinzelte Zuzug von Privaten, die freiwillig in die Dienste eines Kriegführenden treten, aber damit auch den Schuß ihres Heimathsstaates verlieren. Indeß kommt dabei Alles auf die Umstände an. Niemand konnte eine Verlegung der Neutralität der betreffenden Staaten darin sehen, wenn begeisterte Philhellenen, wie Lord Byron u. A., der Sache der Griechischen Unabhängigkeit ihre Dienste widmeten; etwas ganz Anderes aber war es, als 1877 bei dem Serbisch Türkischen Kriege Russische Officiere mit Erlaubniß und Urlaub ihrer Vorgesetzten massenweise als Freiwillige in die Serbische Armee traten, so daß Lord Derby am 8. Februar 1877 erklären konnte: „The Russian volunteers constituted the whole fighting force of the Servian army." Dies war eine offenbare Verlegung der Neutralität, und es war keine Entschuldigung, wenn der Kaiser dem Englischen Botschafter in Livadia sagte, er habe geglaubt, durch die Oeffnung dieses Ventils die nationalen Sympathien beschwichtigen zu können. Solche Freiwillige, welche gegen das Verbot ihrer Regierung auf eigene Hand gehandelt und thatsächlich Unterthanen des Kriegführenden geworden, dem sie ihre Dienste gewidmet, also ihr Heimathsrecht verloren, sollten nicht wieder in ihre frühere Stellung aufgenommen werden. Auch hatte 1870 der Czar allen Russischen Unterthanen verboten, als Freiwillige in Dienste eines der Kriegführenden zu treten, „da dies eine Verlegung des von Sr. Majestät gefaßten Entschlusses sein würde, eine strenge Neutralität in dem Conflicte zwischen Frankreich und Preußen zu beobachten."

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Ganz unberührt läßt es die Neutralität eines Staates, wenn er die einberufenen Reserven der Kriegführenden ungehindert abreisen läßt, da

diese nicht seine Unterthanen sind und die betreffenden fremden Consuln, welche die Avocatorien veröffentlichen und eventuell den Abreisenden Reisegeld geben, nicht recrutiren. Die Vereinigten Staaten machten in dem Geseze vom 20. April 1818, Art. 2 ausdrücklich eine Ausnahme für nicht naturalisirte Unterthanen fremder Mächte, die, indem sie ihrer Einberufung folgen, nur ihre Pflicht gegen die heimathliche Regierung erfüllen und noch nicht Soldaten sind. So schifften sich 1870 in New-York sowohl Französische wie Deutsche Wehrpflichtige ein. Das Verbot, Dienste bei den Krieg. führenden zu nehmen, schließt nicht aus, daß ein Kriegsschiff in einem neutralen Hafen seine durch Unfall verminderte Mannschaft so weit vervollständigt, als dies nothwendig ist, um den nächsten Hafen seines Landes zu erreichen, denn dadurch setzt sich das Schiff noch nicht wieder in Stand, als Kriegsmittel zu dienen. Dagegen ist es den Lootsen eines neutralen Staates verboten, an Bord fremder Kriegsschiffe zu Zwecken militärischer Operationen zu dienen. (Englische Verordnung vom 7. August 1870, Dänische vom 25. Juli 1870.)

§ 141.

A. Besondere Neutralitätspflichten zu Lande.

Ebensowenig wie die Ansammlung von Truppen darf der Neutrale dulden, daß Truppen der Kriegführenden durch sein Gebiet ziehen. Grotius, der den innoxius transitus eines Kriegführenden durch neutrales Gebiet als jure societatis humanae aequissimo begründet behauptet (II., Kap. 11, § 13) übersieht, daß ein solches Recht mit der Unabhängigkeit jedes souveränen Staates unvereinbar ist. Er will es zwar nur bei einem gerechten Kriege und für einen unschädlichen Durchzug gestatten, vergist aber zu sagen, wer darüber entscheiden soll, ob eines oder das andere zutrifft? Jeder Kriegführende hält seine Sache für gerecht und wird den Durchzug erzwingen wollen, wenn der Neutrale ihn weigert; unschädlich für den Kriegsgegner aber kann ein Durchzug niemals sein, den der andere Theil im Interesse seiner Kriegführung findet. Der bewilligte Durchmarsch der verbündeten Heere durch Schweizer Gebiet gegen Frankreich 1814 war ein Aufgeben der Schweizerischen Neutralität; es war eine Verlegung der Preußischen Neutralität, als 1805 die Französischen Truppen durch Ansbach-Bayreuth marschirten, während Friedrich Wilhelm III. sich geweigert, den Durchmarsch einer Russischen Armee durch Preußen zu gestatten, ebenso als die Russen 1849 durch die unter Türkischer Suzeränetät stehenden Donaufürstenthümer nach Ungarn marschirten, wogegen die Pforte protestirte. Auch wenn dabei Seitens eines Krieg. führenden Zwang gegen den Neutralen geübt wird, ist der andere Theil nicht verbunden, die Neutralität zu achten, denn thatsächlich dient dessen

Gebiet dem Gegner als Operationsbasis. Könnte man sich damit_entschuldigen, daß man Gewalt leide, so würde der Kriegführende, der sich nicht scheut, sie zu gebrauchen, gegen den im Vortheil sein, welcher sie achtet, und würde sich möglicherweise auch eines neutralen Hafens oder einer neutralen Festung bemächtigen. Alle solche Handlungen heben thatsächlich die Neutralität des Gebietes auf und machen es zum Kriegsschauplah, der Neutrale mag sich dabei leidend, inoffensiv verhalten, sei es, weil er es nicht zu hindern vermag, sei es, weil er nicht selbst Kriegführender werden will, aber der andere Kriegführende ist nicht verbunden, eine Nentralität zu achten, die thatsächlich nicht mehr besteht. Der Neutrale muß sich in Stand sehen, sein Recht zu wahren, und kann er es nicht, hat er die Folgen zu tragen. Dies geht auch auf dauernd neutralisirie Staaten. Belgien scheute 1870 große Kosten und Anstrengungen nicht, um die Unverleglichkeit seines Gebietes zu vertheidigen, und die Schweiz sezte sich in Stand, 1871 bei dem Uebertritt der Bourbakischen Armee ihre neutralen Verpflichtungen zu erfüllen.

Ein solcher Durchmarsch ist auch dann nicht gestattet, wenn der regelmäßige Weg, auf welchem die Staaten, die zum Kriege schreiten, mit einander oder in sich selbst verbunden sind, über das neutrale Gebiet führt. Ganz richtig verhielt sich die Schweiz 1870; der regelmäßige Weg für die Bewohner des Badischen Seekreises nach Norden ist die Eisenbahn von Constanz nach Basel, die an mehreren Stellen Schweizerisches Gebiet durchschneidet, ebenso führt der regelmäßige Weg der am südlichen Ufer des Genfer Sees wohnenden Savoyarden nach Frankreich über Genf. Es war also natürlich, daß die beiderseitigen Militärpflichtigen diesen Weg wählten, um zu ihren Truppen zu kommen; der Bundesrath aber verfügte, daß die Durchfahrt nur für Personen ohne Uniform und Waffen statthaft sei. Als später in Basel ein Französisches Amt errichtet wurde, um die Elsässer, die sich freiwillig dem Französischen Heere stellen wollen, über die Schweiz nach Südfrankreich zu befördern, trat der Bundesrath diesem Mißbrauch neutralen Gebietes entgegen und hinderte die Zuzüge, wenn auch die Leute weder Uniform noch Waffen hatten, in dem richtigen Gefühl, daß dies nicht mehr ein Verkehr von Reisenden, sondern Beförderung von Soldaten sei.

Es ist auch unrichtig, wenn Bluntschli (771) behauptet, eine Verlegung der Neutralitätspflicht liege nicht vor, wenn Staatsdienstbarkeiten oder besondere Verträge den Neutralen zur Duldung des Durchmarsches verpflichteten. Für den Kriegführenden kommt es lediglich auf das thatsächliche Verhalten des Neutralen an; hilft dieser irgendwie seinem Gegner, so ist er nicht mehr verbunden, diese Neutralität zu achten, und der Grund, aus welchem der Neutrale handelt, kommt für ihn nicht in Betracht. Das von Bluntschli angeführte Beispiel der Rheinbundstaaten paßt nicht, da diesen nach der Verfassungsurkunde von 1806 überhaupt jeder Krieg gemeinsam war; das Beispiel aber, das die Schweiz, welche vertragsmäßig zur Durchlassung Badischen Militärs auf der Bahn von Constanz

über Basel verpflichtet war, 1870 gab, zeigt, daß sie wußte, ihre Vertrags- und Neutralitätspflichten in Einklang zu bringen.

Das Verbot des Durchzuges geht auch auf Gefangene, es sei denn, daß der andere Theil seine Zustimmung dazu gegeben. Die Versendung solcher durch neutrales Gebiet zu gestatten, heißt dem Sieger helfen; Frankreich war berechtigt, sich zu beklagen, als 1859 Bayern erlaubte, daß Oesterreich Französische Gefangene durch sein Gebiet führen ließ.

§ 142.

Festhaltung übertretender Truppen.

Verfolgte und flüchtige Truppen beider Theile darf der neutrale Staat, kraft des jeder Regierung zustehenden Asylrechtes, aufnehmen, und an seiner Grenze muß der verfolgende Sieger Halt machen. Der Neutrale aber übernimmt damit zugleich die Verpflichtung, daß die Flüchtigen sich streng friedlich verhalten, nicht etwa sich blos ausruhen, pflegen und dann vielleicht an gelegener Stelle das Kriegsfeld wieder betreten, um den Kampf fortzusehen; denn in solchem Falle würde das neutrale Gebiet für die Kriegführung benußt. Der Neutrale ist daher verpflichtet, die Flüchtigen zu entwaffnen und zu einem friedlichen Verhalten zu nöthigen, deshalb auch eventuell die Truppen im Innern seines Gebietes zu interniren, wenn ihre Anwesenheit an der Grenze gefährlich scheint. Das ist keine Kriegsgefangenschaft, die ja der Neutrale nicht verhängen kann, sondern Maßregel der politischen Sicherheitspolizei, gerade so gut wie jeder Staat politische Flüchtlinge, denen er Asyl gewährt, interniren kann. So sagt der Entwurf der Brüsseler Conferenz von 1875, Art. 53: „L'État neutre qui reçoit sur son territoire des troupes appartenant aux armées belligérantes, les internera, autant que possible loin du théâtre de la guerre. Il pourra les garder dans des camps et même les enfermer dans des forteresses et dans les lieux appropriés à cet effet. Il décidera si les officiers peuvent être laissés libres en prenant l'engagement sur parole de ne pas quitter le territoire neutre sans autorisation. Art. 54: A défaut de convention spéciale, l'État neutre fournira aux internés les vivres, les habillements et les secours commandés par l'humanité. Bonification sera faite à la paix des frais occasionnés par l'internement.“

Dieser Verpflichtung kamen die Pforte 1849, die Schweiz und Belgien 1870/71 nach. Die Pforte lehnte mit Recht die Forderung Desterreichs und Rußlands ab, die nach der Niederlage Ungarns auf ihr Gebiet übergetretenen Ungarischen und Polnischen Flüchtlinge als Rebellen auszuliefern, aber sie entwaffnete dieselben und internirte sie später in Kleinasien. Nach Sedan retteten sich Tausende von Französischen Soldaten nach Belgien, im Januar 1871 entging das ganze Corps Bourbaki's der Vernichtung oder Gefangenschaft nur durch Uebertritt in die Schweiz.

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