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§ 183.

Voraussetzungen und Anwendungsfälle des Postliminium.

Literatur: Bluntschli §§ 728–730.

Martens (Uebers. v. Bergbohm)

II., S. 546. - Hall § 165. -Halleck a. a. D., §§ 6, 10, 11. a. a. D. Vattel §§ 207, 208, 211-216.

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Woolsey Calvo §§ 2984-2987.

Das Postliminium tritt zunächst ein in dem Falle, daß eine temporäre Besetzung eines Gebietes durch den Feind, eine Occupation, aufhört. Dies kann, abgesehen vom Friedensschlusse, auf verschiedene Weise ge= schehen.) Entweder entfernt sich der Feind von selbst aus dem beseßten Gebiete oder er wird durch die Bevölkerung des Landes verjagt; er wird durch die legitime Regierung und deren Alliirte oder durch eine dritte Macht vertrieben. In allen Fällen stellt sich die zerstörte Rechts. ordnung wieder her, auch erlangt, abgesehen von dem lezten Falle, die frühere Regierung die Staatsgewalt wieder.

Postliminium bei Alliirten. Daß das Postliminium gegenüber Alliirten Play greift, kann als unzweifelhaft gelten. Die mit uns Verbündeten sind mit uns eins. Es ist also gleichgültig, ob ein Terri torium durch ihre Kriegsmacht oder durch die unsere vom Feinde befreit wird. Wenn Personen, Sachen oder Einrichtungen unter die Gewalt unserer Verbündeten gelangen, so ist das selbstverständlich ebenso gut, als ob sie in unsere Gewalt kämen.")

Postliminium bei Befreiung durch eine dritte Macht. Etwas anders aber liegt nun der lettere Fall, der der Befreiung des eroberten Landes durch eine dritte Macht, welche weder die rechtmäßige Staatsgewalt des befreiten Landes, noch ein Bundesgenosse desselben ist. Hier versteht sich die Wiederbelebung der früheren Verfassung und Regierung des Landes man sieht, es handelt sich hier stets um das Postliminium des öffentlichen Rechts nicht von selber. Vielmehr ist nach Bluntschli's Formulirung die befreiende Macht, welche inzwischen die Kriegsgewalt handhabt, berechtigt, bei der neuen Reguli. rung der öffentlichen Zustände mitzuwirken. Denn die fremde Macht, welche ihre Kräfte an die Befreiung jenes Landes sezt, das nicht mehr im Stande ist, sich selbst zu befreien, hat ipso facto ein gewisses Recht, daß die Neuordnung der Dinge mit Berücksichtigung auch ihrer politischen Interessen erfolge.

Die Erörterung dieser Rechtsfrage knüpft stets an einen Fall der Europäischen Staatspraxis aus dem Anfang dieses Jahrhunderts an. Bei der Eroberung Italiens durch Napoleon wurde auch die Republik Genua 1797 niedergeworfen und 1805 dem Vicekönigreich Italien einverleibt. Am 26. April 1814 erfolgte durch eine Englische Flotte unter

Handbuch des Völkerrechts IV.

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Admiral Bentinck die Befreiung. Da die Britische Regierung jene Einverleibung niemals anerkannt hatte, konnte Bentinck ohne Weiteres die Herstellung Genuas als selbstständiger Republik proclamiren. Trozdem wurde unter Protest der neuen Regierung Genua durch Art. II. des Pariser Friedens von 1814 dem Königreich Sardinien einverleibt und diese Einverleibung durch die Wiener Congreßacte bestätigt. Heftige Angriffe wurden gegen die Englische Regierung, besonders in der berühmten Rede Mackintosh's vom 27. April 1815, wegen ihres Ver haltens ausgesprochen.) Es wurde ausgeführt, daß England wohl ein Eroberungsrecht gegen Frankreich, nicht aber ein solches gegen Genua besaß. Wohl die anderen Staaten, nicht aber England, konnten lezteres als einen Theil Frankreichs betrachten. Denn als dessen Einverleibung in Frankreich, bezw. Italien erfolgte, war Frankreich feindlich, Genua aber ein England befreundeter Staat. Admiral Bentinck betrat daher 1814 Freundesland, das vom Feind occupirt war. Nach dieser Auffassung hätte Genua ohne Weiteres wieder als Republik aufleben müssen. Dieser vielvertretenen Auffassung gegenüber wurde geltend gemacht, daß die Regierung, die sich nicht selbst befreit, nicht ohne Weiteres wieder eingesezt werde, eine Ansicht, die seit Heffter und Bluntschli im Wesentlichen die herrschende ist. Einen anderen Standpunct nimmt Hall ein, welcher die Entscheidung der Frage von dem Umstande abhängig machen will, ob eine blose Occupation, ob eine förmliche Usurpation stattfand, im ersteren Falle unbedingtes Postliminium der öffentlichen Gewalt an erkennend, im lezteren dem Befreier eine Einwirkung, jedoch unter Be tonung seiner moralischen Verpflichtungen, zugestehend.

Postliminium im neutralen Gebiete. Die herrschende Lehre stellt den Saz auf, daß bei Neutralen ein Postliminium nicht Anwen dung findet. Es wird dies damit begründet, daß die Neutralen jeden Erwerb auf beiden Seiten als rechtmäßig anerkennen müssen, da sie ja auch über die Rechtmäßigkeit des Krieges selbst nicht zu Gunsten einer Partei sich erklären dürfen. „Accorder à l'un le droit de revendiquer les choses enlevés par l'autre ou le droit de postliminie dans ses terres, ce serait se déclarer pour lui et quitter l'état de neutralité.") Diese Beweisführung erscheint höchst zweifelhaft, und die Lösung dieses Problems ist nicht so einfach. Keineswegs müssen die Neutralen jeden Erwerb als rechtmäßig erachten, vielmehr müssen sie das Postliminium nach beiden •Seiten zulassen, wenn man dessen Berechtigung principiell anerkennt. Uebrigens werden diese Fragen selten praktisch werden. Und wenn es sich um eine Verlegung der Neutralität Seitens der kriegführenden Parteien handeln sollte, so kann es gar keinem Zweifel unterliegen, daß das Postliminium den Neutralen gerade so zu gute käme, wie es überhaupt für Rechtsverhältnisse in beseßten Gebieten Gültigkeit hat.

Postliminium im Bürgerkriege. Inwieweit ein solches statt. finden könne, ist eine Frage, die zwar im Anschluß an das Römische Recht zuweilen auch in völkerrechtlichen Werken behandelt wird, die

jedoch allein dem inneren Staatsrecht und Privatrecht angehört. Das Römische Recht erkannte ein Postliminium im Bürgerkriege nicht an, weil der Bürger nicht als Feind zu betrachten sei.5)

Postliminium bei voller Unterwerfung kann nicht stattfinden. Wenn der Krieg mit Friedensschluß endet, so hebt dies zwar unserer Auffassung nach das Postliminium nicht auf, wohl aber, wenn er mit voller Unterwerfung endet. Hier kommen dann die im lezten Paragraphen näher darzulegenden Grundsäße in Anwendung.

Zeitgrenze für die Wirksamkeit des Postliminiums. Hierüber finden wir in den Römischen Quellen keine Bestimmung. Für das moderne Recht sind drei Gruppen von Rechtsverhältnissen zu unterscheiden. Zunächst giebt es im Allgemeinen für den Rückerwerb von Grundeigenthum und persönlichen Rechten eine zeitliche Grenze überhaupt nicht. Andererseits kommen für den Rückerwerb beweglichen Eigenthums die im modernen Kriegsrecht anerkannten Säße über die Beute in Betracht, so daß nach vierundzwanzigstündigem Besize von einem Rückerwerb hier nicht mehr die Rede sein kann. Was schließlich die gekaperten Schiffe und deren Ladung anbetrifft, so kann hier ein Postliminium nur in der Zwischenzeit zwischen der Wegnahme und der Weg) führung infra praesidia oder der Condemnirung in Betracht kommen Ueber dies seerechtliche jus recuperationis s. (außer Bd. II., S. 580 Bd. IV., S. 593 dieses Handbuches.

1) Martens (Uebers. v. Bergbohm) S. 546.

2) Vattel, § 207, macht einen Unterschied, je nachdem die Aliirten sich vollständig mit uns verbündet, aber nur zur Stellung von Hülfstruppen u. j. w. verpflichtet haben. Vgl. übrigens schon (zugleich für den Fall der folgenden Note): Grotius III, 9, § 9, Bynkershoek, Quaest. jur. publ. I., 16.

$) In the year 1797, when Genoa was conquered by France, then at war with England, under pretence of being revolutionised, the Genoese republic was at peace with Great Britain; and consequently, in the language of the law of nations, they were friendly states. Neither the substantial conquest in 1797, nor the formal union of 1805, had ever been recognised by this kingdom. When the British commander therefore entered the Genoese territory in 1814, he entered the territory of a friend in the possession of an enemy. Can it be inferred that he conquered it from the Genoese people? We had rights of conquest against the French; but what right of conquest would accrue from their expulsion as against the Genoese? How could we be at war with the Genoese? not as with the ancient

republic of Genoa, which fell when in a state of amity with us, not as subjects of France, because we had never legally and formally acknowledged their subjection to that power. There could be no right of conquest against them, because there was neither the state of war, nor the right of war. Perhaps the powers of the continent, which had either expressly or tacitly recognised the annexation of Genoa in their treaties with France, might consistently treat the Genoese people as mere French subjects and con

sequently the Genoese territory as a French province, conquered from the French government which as regarded them had become the sovereign of Genoa. But England stood in no such position: in her eye the republic of Genoa still of right subsisted. Genoa ought to have been regarded by England as a friendly state, oppressed for a time by the common enemy, and entitled to reassume the exercise of her sovereign rights as soon as that enemy was driven from her territory by a friendly force." (Vgl. Mackintosh's Miscell. Works, p. 703, Hall, Intern. law, S. 420.) Bluntschli § 729, erwähnt auch die Verhandlungen Preußens mit dem Herzog von Augustenburg über Schleswig-Holstein, worüber Verf. sich der Bemerkung Halls S. 422, Note 1, anschließt.

4) Vattel § 208. Auch Phillimore III, § 404, S. 606, leugnet das Postliminium für Neutrale. Fälle: The Sophia, 6 Rob., Rep. p. 138, The Amistad de Rues, 5 Wheaton, Rep. p. 390.

5) Einen Fall dieser Art vgl. in Seuff.'s Archiv XII., Nr. 147. (Erk. d D.-H. G. Mannheim vom 12. Februar 1857.)

$ 184.

Arten des Poßtliminium.

A. Das persönliche Postliminium (Strafrechtliches Postliminium).

Literatur und Verweisungen zu §§ 184-186: Bluntschli §§ 737 fi. -
Heffter §§ 189, 190. Klüber, Völkerrecht, § 258. Phillimore
S. 812 ff. Calvo § 2980 ff. Litta, L'occupazione, S. 48 ff..
Meermann, Recht der Eroberung, 1774; Rechtliche Bemerkungen über das
Recht der Eroberung und Erwerbung im Kriege, 1814. — Pfeiffer. Recht
der Kriegseroberung, 1823. Fälle aus der Praxis zu §§ 154-186:
Aus
Alterthum und Mittelalter: Quinctiliani institutiones
oratoriae, V., c. 10. Bourdon, De chirographo Thessalorum, citirt
bei Pfeiffer, Kriegseroberung, S. 175. Weiteres ebenda S. 178, Note d.
Polybii Hist. exc. 35. Dio Cassius, Hist. rom. lib. 41, c. 50, vgl.
Cocceji, Diss. de jure victoriae, § 33. H. Grotius III., 8 s. 4, § 3.
Recueil d'arrêts notables des
Ph. Decius, Consilia, c. 25.

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Alb. Gentilis III., 5.

Paponius,

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cours souveraines de France V., 6, No. 2. Matthaeus de Afflictis, decisiones Neapolitanae, No. 150. Näheres hierüber bei Pfeiffer a. a. D., S. 165–237. Ueber den Hessen-Cassel‹ Fall vgl. unten § 187. Neuere Englisch- Amerikanische Praxis: Pitt Cobbet, Leading-cases, S. 104 ff., 135 ff. - Bay's Reports of cases II., 299. Dodson's Adm. Rep. I., 249, 396, 451.

and East's Rep. VIII., 548 (Potts v. Bell).

Durnford

Edward's Adm. Rep.

I., 60 (Nuestra Señora de los Dolores). Gallison's Rep. (Boston 1845) II., p. 500 ff., Johnson's Rep. XX., 213. Maule and Selvyn's Rep. VI., 92 ff., 1814-1829 (Wolff v. Oxholm). Peter's Rep. VII, 86 ff., III., 100, 157 ff. Robinson's Adm. Rep. I., 180, 196, IV., 54. 105. - 7 Jurist, N. S. 350, 1860 (Wadeer v. East India-Company,

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insbes. aber Greenhood, The doctrine of public policy in the law of contracts. (Chicago 1886.) G. 370-80, Curti's Reports of decisions in the Supreme Court of the U. St., I. 103, IV. 391, V. 503 ff., VII. 332, und Knapp's Rep. of cases argued and determined before. . H. M. M. H. Privy Council, 1829-1836, I., 345 ff., II., 23, 51, 295, 301, 364 ff. (vgl. Phillimore, Halled, Kent, Comment.). Reichsgerichtliche Entscheidung, III. Sen. 343/85, 9. April 1886: Bolze, Praxis des D. R.-G. in Civilsachen, Bd. III. Frühere Deutsche Entscheidungen sind mehrfach in den zu 187 angeführten Werken citirt. Entscheidungen Französischer § Gerichte: Interessanter Fall einer Verfügung Napoleons während der 100 Tage, 1815, Journal des débats etc. vom 26. März 1823. Nach dem Kriege 1870/71: Dalloz 1871 I. (80, 262) 358, II. 132, III. 92, 1872 II. 229, 1873 I. 159, II. 7, III. 7, 1874 I. 261, II. 177, III. (9, 19) 45, 1875 I. 164, 209, 245, 299, II. 204, III. 101. Weitere Citate 1875 I., p. 126, Note 2. Vergl. auch oben § 144 ff. Literatur und Verweisungen zu § 184: § 609 ff., 737. Wheaton IV., 2, § 15. Calvo 2992. III., 8, 9, 13. Vgl. auch die zu § 182 angeführte Schrift Bechmann's, welche lediglich die Rechtsverhältnisse der Gefangenen während der Gefangen. schaft und nach der Rückkehr nach R. R. unter Verwerthung der Begriffe „Schwebe“ und „Rückziehung" behandelt.

Heffter § 189.

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Bluntschli
Grotius

Das Römische Recht kannte eine doppelte Art des Postliminium, ein persönliches und ein sachliches. In ersterer Hinsicht muß der Römische Rechtsbegriff als völlig antiquirt erscheinen, nachdem die Anschauung, welche im Kriegsgefangenen den Sklaven sah, geschwunden ist. Nach Römischem Rechte erlangte der Freigewordene alle Rechte wieder, ward wieder Träger des patria potestas, Vater seines Hauses und Gatte seiner Gattin. Wenn das Römische Recht für die Ehe einen neuen Consens gefordert zu haben scheint, so war solche Bestimmung bereits durch die christliche Kirche (C. 34 q. 1. 2.) umgewandelt worden; im modernen Rechte aber hätten alle derartigen Säße keine Bedeutung, so wenig wie die über den Beginn des Postliminium, den Ausschluß gewisser Personen von diesem Beneficium u. s. w. So hat man wohl die Aufstellung einer Begriffskategorie, wie die des postliminium personarum, zuweilen für völlig unnüş erklärt. Und doch können auch wir von einem solchen, wenn auch in ganz anderem Sinne, als die alten Römer, sprechen. Ja, es dürfte vielleicht diese Kategorie weiter zu fassen sein, als es gewöhnlich geschieht.

Auch heute bezeichnet das postliminium personarum die Rückkehr der Person zum vollen freien Genuß der durch die Kriegsnoth suspendirten Befugnisse. Diese letteren sind eben nur suspendirt, nicht erloschen: Das moderne Postliminium bedeutet nicht Wiederherstellung des Rechtes, sondern nur Beseitigung der Hemmnisse; alle persönlichen Rechte, an deren Ausübung der Kriegsgefangene gehindert war, können nun wieder frei von ihm ausgeübt werden. Wesentlich aber ist, daß sein Recht während der Gefangenschaft überhaupt nicht aufgehoben war. Der Kriegsgefangene kann einen Verwalter bestellen, Güter veräußern, kann über sein Ver

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