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Das Baseler Missionshaus, das Beuggener Rettungshaus entstanden. Die durch den Rationalismus und die Neologie entleerten Kirchen füllten sich wieder, die Bibel wurde durch die Bibelgesellschaften in zahllosen Massen verbreitet, und in noch größeren begehrt; die gottesdienstlichen Versammlungen genügten nicht mehr, um das neuerwachte Bedürfniß nach Erbauung zu stillen; hier und dort suchte man in besonderen Zusammenkünften durch Gebet und das Lesen frommer Schriften noch mehr Speise aus Gottes Wort, als die im Ganzen doch noch todte Geistlichteit in den Predigten darbot.

Dieses neuerwachte Leben suchte sich die Formen und Gefäße, in welche es sich ergießen möchte. Aber wie waren diese beschaffen? Die Gräuel der Verwüstung aus dem Rationalismus, dem Unglauben und der Neologie entsprungen, herrschten noch überall in den bestehenden kirchlichen Organen. „Ich habe mir so mein System gemacht!" hieß es, wenn man Jemand nach seinem Glauben fragte. Daß über dem Glauben des Einzelnen es auch noch ein kirchliches Bekenntniß gäbe, welches wenigstens eine gesunde Norm und Mittel für die Einführung in die Schriftlehre sei, das konnten nur Wenige sich denken. Nur sehr wenige unter allen Geistlichen hatten sich die Mühe gegeben, die Bekenntnißschriften wirklich zu lesen; aber von der Universität her hatten sie, Dank den neologischen Professoren, diejenige Ehrerbietung etwa für die Symbole mitgebracht, welche man für eine Vogelscheuche zu empfinden pflegt. Kaum ein einziger Glaubensartikel wurde auf den Universitäten in der vom kirchlichen Lehrbegriff vorgeschriebenen Form vorgetragen. Die Fähigkeit, über diesen kirchlichen Lehrbegriff sich hochmüthig, auch wohl spottend zu erheben und hinwegzusetzen, galt für hohe Bildung. Pastoren gab es gar nicht mehr, sondern nur noch Prediger, die Beichte wurde abgeschafft, die Hausbesuche galten für unanständig. Hier und dort wurden noch die Geistlichen auf die Bekenntnißschriften verpflichtet, aber nicht weil, sondern sofern dieselben mit Gottes Wort übereinstimmten; und dies Sofern gab ihnen selbst die Stellung eines Richters

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über die Lehre der Kirche, welche sie mit einem gehörigen Maß von Selbstgenügsamkeit wohl auszubeuten wußten. Das Wesen der evangelischen Kirche der reformirten, wie der lutherischen, - war in Protestantismus“ zusammengeschrumpft; und man protestirte nicht blos gegen die katholischen Irrlehren, nicht blos gegen jegliche Art von Glaubenszwang, sondern man protestirte auch gegen jegliche Regung von kirchlicher Ordnung und gegen die biblische Wahrheit. In diesem Protestiren gab es eine Union, eine Einheit, die einzige in der damaligen Kirche. Dazu hatte die Kirche, wie wir oben gesehen, auch die lette Spur von Selbstständigkeit seit dem Jahre 1808 verloren, und sie trug die erniedrigenden, tief demüthigenden Fesseln des Staates, der sie in eine Section des Ministeriums des Innern verwies. Und die Kirche freute sich dieser Fesseln, ihre Organe geizten nach der Ehre, Diener des Staats zu sein! - Sad in seiner oben angeführten Schrift aus dem Jahre 1812 zeichnet diesen Zustand mit den Worten hin: „Die protestantische Kirche beider Confessionen ist sehr krank, und bedarf offenbar einer Wiedergeburt, wenn sie fernerhin das Wesen einer Kirche überhaupt, und einer christlichen insbesondere nicht ganz verlieren und sich weder zersplittern noch auflösen soll; denn die Wunden, die ihr seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts geschlagen sind, werden auf eine oder die andere Art ihr Ende herbeiführen, wenn sie nicht bald geheilt werden."

Dies waren die alten Schläuche, die den neuen Most nicht zu fassen vermochten. Eben so wenig als im Jahre 1788 das Religionsedict im Stande war, den aufstürmenden Fluthen der Neologie einen Damm entgegenzuseßen, eben so wenig würde ein ähnliches Religionsedikt anno 1817 im Stande gewesen sein, den neuentspringenden Lebensbächen die rechte Bahn zu weisen. Denn kirchlich symbolische Ordnungen sind gut und heilsam, wo 'große Massen bereits lebendig geworden sind. Um diese Zeit aber handelte es sich um eine Neubelebung der Kirche von einzelnen gläubig gewordenen Subjecten aus. Hier und da wuchs, wie im Frühling nach langem Winterschlafe, eine lieb

liche Blume hervor und verwunderte sich, daß, während sie sich einsam glaubte in ihrem neuen Leben, doch schon hier und dort auch eine andere ihren Kelch erschlossen hatte. Zu der Zeit fragten dann selbst die gläubigen ernsten Christen einander nicht: Bist du lutherisch? bist du reformirt? sondern: Hast du Buße gethan? hast du Vergebung deiner Sünden? bist du ein erwecktes (oder wie man damals sprach, ein wiedergeborenes) Kind Gottes? In den confessionellen Unterschieden zwischen der lutherischen und der reformirten Kirche durch welche ja die obschwebenden Capitalfragen von Buße, Glaube, Erweckung nicht unmittelbar berührt wurden sahen die Gläubigen jener Zeit, welche sie nur aus den Berichten der neologischen Pastoren kannten, nur veraltete, längst abgethane Schulgezänke, und in dem damnamus der symbolischen Bücher den Pferdefuß des Satans. Sack sagt in seiner angeführten Schrift S. 33: ,,Eine andere Ansicht von dem, was im Christenthum die Hauptsache ist, hat die Zeit herbeigeführt; man hat eingesehen, daß der ehemalige Streit über die Art der Gegenwart des Herrn im Abendmahl und der über die unerforschlichen Rathschlüsse Gottes bei Erwählung oder Verwerfung des Menschen, mehr einen Wortstreit, als eine wirkliche Verschiedenheit zum Grunde habe, daß die Streitenden einiger waren, als sie selbst glaubten, und daß eine durchgängige, vollkommene Uebereinstimmung in Nebenfragen gar nicht nothwendig sei, um in einer brüderlichen Kirchengemeinschaft zu verharren." Man verstand eben nicht, daß die Kirche der Leib des Herrn, die Gemeinschaft aller Gläubigen sei, in welcher die Fülle Seiner Liebe und Seiner Heilsgüter erst vollständig ausgeprägt, dargestellt und mitgetheilt werden könne. Die Kirche des Gläubigen war ihm in erster Linie sein eigenes gläubiges Herz, die Gemeinschaft mit den Anderen nur eine gegenseitige Anregung zur Erbauung oder andächtigen Erquickung. Wo daher zwei oder drei,,gläubige" Christen in einem Conventikel zusammen waren, um über Sünde und Gnade sich zu unterhalten, da dünkten sie sich mehr zu sein, als die große, oft so veräußerlichte Anstalt, die Kirche,

die ihnen oft geradezu ein Babel zu sein schien. Von der Kirche als göttlicher Stiftung erwarteten sie auch kein Heil; dies sollte nach ihrer Meinung nur von dem Zeugniß der einzelnen Erwedten ansgehen. Daß sie auch um Christi willen zu jedem getauften Christen als solchem eine herzliche volle brüderliche Liebe haben müßten, das verstanden sie nicht. Wahrhaft brüderliche Liebe glaubten sie nur den Erweckten schuldig zu sein; zwischen den übrigen Christen, die man nicht für Erweckte hielt, und zwischen Heiden machte man keinen sonderlichen Unterschied. Denn die heilswirkende Kraft der Sacramente kannte und achtete man nicht. So fühlte sich denn ein „gläubiger“ Lutheraner mit einem gläubigen" Reformirten weit enger verbunden, als mit dem „unbekehrten“ Mitgliede seiner Gemeinde, und von dem vorherrschend subjectiven Character der damaligen Frömmigkeit aus hatten auch die gläubigen Christen in Bezug auf die Autorität der Bekenntnißschriften kaum ein tieferes Verständniß, als die ganz ungläubigen. Sack 1. c. S. 70 sagt geradezu:,,Von einer Ausgleichung der Verschiedenheit in dogmatischen Vorstellungen, welche die Trennung veranlaßt hat, müßte durchaus nicht die Rede sein. Mögen die symbolischen Schriften, in welchen die ehemals divergirende Meinung einer jeden Partei polemisch und mit Verwerfung der Andersdenkenden ausgedrückt ist, als Befenntnißschriften alter Zeit in Ehren bleiben; mögen sie in den Hörsälen akademischer Lehrer fernerhin historisch erläutert und der Kritik unterworfen werden. Aber ihr ohnehin gesunkenes kirchliches Ansehen sei antiquirt, und keines Lehrers Gewissen werde ferner durch eine Verpflichtung auf dieselben beschwert."

Die neuerwachende Theologie führte dieser gläubigen Richtung keine objectiv kirchlichen Momente zu, denn sie stand selbst völlig unter der Herrschaft des Subjectivismus. Schleiermacher hatte ein bewundernswerthes,,System" aufgebaut, dessen Grundlage nicht die göttliche Heilsthat, sondern das Bedürfniß des religiösen Subjects war. Von diesem Ausgangspunkte wird man, je consequenter der Fortschritt, desto sicherer zum gäuzlichen Bankerutt der Kirchenidee hingeführt, und dies war die ton

angebende Richtung der neuerwachenden gläubigen Theologie. Weil ein Jeder genug zu haben glaubte, wenn er nach dem ersten Zuge göttlicher Gnade sich selbst seine eigene Ueberzeugung bildete, und dann den Prediger in dem Umgang aufsuchte, der ihm persönlich am meisten zusagte, so kümmerte sich der Einzelne nicht sonderlich um den Gottesdienst und dessen Formen (die ja erst durch die Idee einer Gemeinde ihre Bedeutung und Erfüllung finden). Daher entstand Gleichgültigkeit gegen den öffentlichen Gottesdienst, ja auch gegen die äußere Gestalt der Kirche in dem Maße, daß man kalten Blutes das Zusammenbrechen derselben ansehen konnte.*)

So fand denn demzufolge der König für seine kirchenreformatorischen Pläne, wenigstens was das Urtheil seiner Zeit betraf, tabula rasa, sowohl hinsichtlich des Rechtsbodens, als auch hinsichtlich des Bekenntnißstandes beider Kirchen. Wenn er daher den wiederholten Einflüsterungen eines Eylert, man müsse bis auf das Urgebiet des Christenthums" zurückgehen, endlich Gehör schenkte, so that er nichts anderes, als was das neuerwachende gläubige Bewußtsein seiner Zeit begehrte und für angemessen erachtete. Und wenn er bei der Neugestaltung der kirchlichen Verhältnisse seinen Lieblingsgedanken, die Union, bestimmend mit einwirken ließ, so war die ganze Schaar der gläubigen Christen so weit entfernt, hierin ein Unrecht oder ein Verletzen bestehender Rechte zu erblicken, daß sie im Gegen= theil in dem Anbahnen der Union die erste Realisirung ihres brennenden Wunsches nach einer Verbrüderung aller Gläubigen erblickten und dies um so mehr, als der König deutlich genug befundete, daß es ihm bei der Union nicht um eine Stärkung des Unglaubens, sondern um eine Hebung des Glaubens zu thun sei.

Demzufolge ist die Einführung der Union zu ihrer Zeit ein Fortschritt aus dem Unglauben heraus zum Glauben hin gewesen. Dieser Fortschritt trug die Form und das Gepräge einer kirchlich völlig unentwickelten, und darum mit dem kirch*) Vergl. Huschke, Theolog. Votum eines Juristen. S. 25 ff.

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