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Urkunden und Regesten

zur Geschichte des St. Gotthardweges
vom Ursprunge bis 1315.

Von

Dr. Hermann v. Liebenau.

Vorspruch.

Eine historische Bearbeitung dieser zukünftigen Weltbahn durch die Centralalpen wird stets in drei Theile zerfallen, wovon der erste mit dem mittelalterlichen Saumpfade über Ursernberg, der zweite mit der Kunststrasse für Räderfuhrwerke und der dritte mit Durchbohrung des Bergs und Erbauung des Schienenwegs beginnt.

Hier ist nur vom Keime dieses Alpenkleeblattes die Sprache; allein auch dessen Erforschung ist zum Verständnisse späterer Entwickelungen unerlässlich und führt uns in die Geheimnisse der Entstehung und Ausbildung des schweizerischen Freistaates tiefer ein, als jede andere historische Betrachtung. Nicht bloss der Geschichtsforscher, auch der Nationalökonom, Jurist, Krieger wie Kaufmann wird in diesem Zeitraume schon befriedigt forschen.

Gleichzeitige Documente sendet man heutzutage historischen Darstellungen ganz oder im Auszuge voraus, um dem Leser zur Kritik der Resultate behülflich zu sein. Damit solche einem grössern Leserkreise zugänglicher werden, setzte ich deutsche

Ueberschriften, oft auch erklärende Bemerkungen und Vergleichungen hinzu.

Die Südseite der Centralalpen fand leider bis anher für ältere Zeit weniger geschichtliche Bearbeiter ihrer so bewegten Vergangenheit und selbst die Quellen sind nicht so bewahrt worden, wie sie es verdient hätten.

Einzelne wenige Familien und Corporationen abgerechnet, findet man an der Reichsstrasse, die dem Tessinthale so grossartige Ereignisse bereitete, selten Archivalien. So sind in Faido, dem Hauptorte der Leventina, einer Gemeinde von acht Stunden Länge, in der oben der St. Jakobspass von Airolo aus auf die Römerstrasse im Tosathale und von Airolo bis an die Zollbrücke von Abiasca führt, schriftliche Denkmale der Vorzeit unsichtbar geworden. Mit gewaltsamer Zerstörung geistlicher Stiftungen hat man z. B. in Bellenz die Quellen der Landesgeschichte gestopft und selbst den Sinn für Kenntniss ruhmvoller Vaterlandsliebe der Vorzeit abgestumpft.

In allen Sitzen eines Potestá bestanden im vierzehnten Jahrhundert sogenannte Mandatenbücher, in welche zahlreiche Erlasse der Landesherren eingetragen werden mussten. Auch diese sind mit den Originalien im Tessin verschwunden; Nessi z. B. bringt nur ein Mandat.

Mühesam musste das Material zu dieser Geschichte aufgesucht und das Verständniss desselben nach altem Sprüchlein: „nonum prematur in annum" langsam durch ein bisher bei uns unbebautes Studium unserer ausonischen Nachbarschaft errungen werden.

Aufmunternd wirkten dabei gelehrte Freunde, wie der sel. Pat. Gall Morel, Dr. Ferdinand Keller in Zürich und mein 1. Sohn Theodor, nebst andern mehr, die, was sie konnten, an bisher unbekannten, ungedruckten und gedruckten Materialien beitrugen. Vorab ergiebige Ausbeute bot das Staatsarchiv Lucern's und das in vielen Sammlungen zerstreut gedruckte bischöfliche Archiv von Como für die Vorzeit. Auch Familien-Archive, wie das von Hallwyl und Orelli-Muralt, haben verdankenswerth,

mit mühevoller Aufopferung sich um diese Sammlung verdient gemacht, ebenso Herr Staatsarchivar Strickler in Zürich und Stadtarchivar Schneller in Lucern.

Die Ambrosiana in Mailand, die ich mir mit einem in Italien gewöhnlichen Hauptschlüssel zu genauerer Forschung früher wochenlange aufzumachen suchte, war damals für barbari tedeski noch unzugänglich und nur der Titel eines Dre. Ambrosiano war die Bedingung, um zu den zahlreichen, bisan unbekannt gebliebenen Schätzen zu gelangen. So scheint es dem Bearbeiter des Schweizer-Urkunden-Registers auch im erzbischöflichen Archiv, ja selbst dem sel. Ritter L. Osio ergangen zu sein; denn die sehr verdienstvolle, seit Giulini's Werk erste Sammlung mailändischer Urkunden, die Osio unter dem Titel: Documenti diplomatici" herausgab, ist für die Zeiträume, als die Torriani und zwei Erzbischöfe aus dem Hause Visconti, Otto und Johannes, in Mailand regierten, ja selbst für die Regierungszeit Matheo's, seines Sohnes und Enkels, äusserst unfruchtbar ausgefallen und beginnt erst in der Zeit Barnabó Visconti's, uns reichlichere Urkunden zu spenden.

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Zwei alte Häuser, die schon zur Zeit Friederich Barbarossa's vorkommenden Freiherren Rusça, oder Rusconi und der in welsch Rhätien niedergelassene Zweig der Freiherren von Sax dürften, wenn ihre Familien-Cartularien so zugänglich wären, wie das der von Muralto und Orelli in Zürich, für Klärung der Geschichte unserer Urschweiz, die der Gotthardsweg beinahe zwei Jahrhunderte hindurch, bis in's Jahr 1426, so mächtig nach Süden zog, noch ergiebige Resultate hoffen lassen, die namentlich diese meine mit spärlichen Privatmitteln gemachte Sammlung wesentlich bereichern möchten.

Wer einen Jahrhunderte hin ruhenden gewaltigen Stein zum ersten Male zu heben sucht, der fühlt die volle Last und ich hoffe, man werde es mir nicht übel nehmen, wenn mein Versuch, im bisher geschichtslosen Gebiete des Tessinthales den Stein Clio's aufzurütteln, nur theilweise gelungen ist.

Den alten Römern blieb das unwegsame Stück der Centralalpen, auf welchem sich später, den Flüssen Tessin und Reuss entlang, unsere Gotthardsstrasse nach und nach entwickelte, wie Tacitus und Plinius uns lehren, vorab aber Diodori Siculi Cap. IX seines sechsten Buches uns überzeugt, ganz unbekannt. Wie im Pusterthale hatten sie zwischen dem Simplon und ihren rhätischen Bergpässen wohl einen Verbindungsweg von Furka über Oberalp. Das dem Alpsteine nahe gelegene Land der Gallia cisalpina hingegen ist, wie die Campi Canini und der an der Moesa hinaufgebaute Römerweg nach Rhätien zeigen, schon in der Zeit der Augustäer von diesem Kulturvolke bewohnt worden. Erdarbeiten der im Baue begriffenen Eisenbahnen werden schwerlich ermangeln, durch neue archäologische Funde diess zu bestätigen.

Dass Gothen über den Ursernberg gewandert wären, um sich in Ure niederzulassen, sagen uns weder alte schriftliche Nachrichten, noch Volkstypen, Sitten und Rechtsgewohnheiten der Bewohner des Stromgebietes der Reuss und ihrer Seitenströme.

Urkundlich erwiesen (Anno 853) war Ura ein alter, schon im Jahre 732 als Exil genannter fränkischer Königshof. Solche errichteten die Merowinger in unbewohnten als solche, oder auch durch Eroberung der fränkischen Krone angefallenen Thälern. Des Schächenthals Südhalde abgerechnet, mögen die Wildwasser der Reuss, des Schächen- und Gerstelenbaches, vor mehr als zwölf Jahrhunderten dem Landbewohner der engen Urner Bergthäler den Boden für Kulturen oft genug streitig und die Pfade an ihren Ufern unwegsam gemacht haben.

In einer solchen Wildniss, wie sie das oberste Reussthal, vorab vom Beginne des Lawinensturzes bis in den Hochsommer, frühere Jahrhunderte hindurch jährlich darstellte, dachte gewiss niemand an den Hochbau einer Reichsstrasse nach Italien. Ura's Königshof, das Gericht (pagellus) dieses Geländes, das meist leibeigene Kronbauern bebauten, schenkte Ludwig d. D., wie den Forst Albis, als einen Anhängsel zum Hofe Zürich seiner Tochter.

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