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faciebat officium, quia vix cantare poterat. Ipse autem deponens non potuit a lacrimis abstinere, tamen non bene scit, si juvenes fuerunt permoti ad lacrimas, quia non poterat videre. eos 1)." Man erhält aus dem Bericht des Zeugen den Eindruck, dass die Versammlung tief ergriffen war; der geistliche Sänger vermochte kaum weiterzusingen. War diese weihevolle Stimmung denkbar, wenn die Dominikaner ein unwürdiges Spiel aufführten? Hätte da dem Geistlichen die Stimme versagt ? Meines Erachtens sprechen die drei Worte „vix cantare poterat", gerade weil sie nicht diesem Zweck dienen sollen, überzeugend für den guten Glauben der Väter. Es ist ein kleiner, aber wichtiger Zug. War anderseits Jetzer der abgefeimte Schwindler, der er sein musste, wenn er die Maria gespielt hat, so passt das devote orabat pro persecutoribus" trefflich zu seinem falschen, heuchlerischen Charakter.

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Rettig bezeichnet nun freilich den Zeugen Wölflin, „den bekannten Lehrer Zwinglis", als einen Mann von schwachem Verstande und Charakter2). Das überrascht mich sehr3). Seine Aussage macht mir aber gerade den gegenteiligen Eindruck. Sie verrät feine Beobachtung und Wahrhaftigkeit. Dass er an das Wunder glaubte, charakterisiert seine Zeit, nicht ihn.

Hat Jetzer die falsche Maria auf dem Lettner gespielt, was ich mit Paulus und Steck für nahezu erwiesen erachte, so mussten die Dominikaner in gutem Glauben sein, denn nur dann hatte die Komödie Jetzers einen Sinn, der dann auch keiner weitern Erklärung bedarf. Dann ist er der Urheber aller

1) Die Väter waren nämlich im Chor versammelt, die Laienbrüder in der Johanneskapelle, Jetzer hatte seinen gewöhnlichen Platz auf dem Lettner. Steck, S. 28.

2) Archiv, S. 542, Note 115.

3) In der That urteilten die Zeitgenossen, wie mir Herr Staatsarchivar H. Türler gütigst mitteilt, ganz anders über Wölflin, den sie als einen feingebildeten Humanisten hochschätzten. Heinrich Bullinger nennt Wölflin « einen verrümpten gelerten man, derglychen damalen in der Eydgenoschafft nitt was; diser Lupulus vept Ulrychen (Zwingli) trüwlich in bonis litteris auch in der poetica». Lupulus schenkte dem Chorherrenstift in Bern im Jahre 1515 die St. Vincenz-Teppiche. Biographisches über Wölflin teilt Pfarrer Jakob Stammler mit im Archiv des historischen Vereins des Kantons Bern, Band 13, 1893, S. 19, dem ich diese Angaben entnehme, sowie in den Schweizer Blättern, 1887, und in den Bernischen Biographien.

frühern Erscheinungen und Wunder, wenn es auch nicht ganz unwahrscheinlich ist, dass er einen oder mehrere Helfershelfer hatte. Diese Helfershelfer konnten unmöglich die Angeklagten gewesen sein, wenn Jetzer sie durch die Erscheinung auf dem Lettner hat täuschen wollen.

Über den Leumund Jetzers sind einige Zeugen einvernommen worden), sie sagen jedoch nicht über ihre eigenen Wahrnehmungen aus, sondern vom Hörensagen. Diese Leumundzeugnisse, die sehr ungünstig sind, möchte ich nur mit Vorsicht verwerten. Aber das Gericht selbst, das Gericht, das Jetzer freigesprochen hat, bezeichnet ihn als einen verlumpten, verächtlichen, lästerlichen und falschen Mann".

Der Prior dagegen, der befragt wurde, ob er auf Jetzer nie einen Verdacht wegen Betrügereien geworfen habe, hat geantwortet: Quod non, ea de causa, quod nunquam suspicatus fuisset eundem Johannem Jetzer, qui sibi tam religiosus, honestus, simplex et bonus videbatur, talia effecisse 1).

Sancta simplicitas!

1) Steck, S. 68.

§ 116 des Zürcher Strafgesetzbuches.

I. Gutachten

erstattet von

Professor Carl Stooss in Wien.

Herr Rechtsanwalt Dr. M. B. in Zürich hat mich ersucht, ihm über die Tragweite der Bestimmung des § 116 des Zürcher Strafgesetzbuches ein Gutachten zu erstatten.

Herr Dr. B. stellt mir unter Bezugnahme auf einen bestimmten Fall namentlich folgende Fragen:

1. Ist eine Bestrafung nach § 116) nur dann möglich, wenn der Beischlaf vollzogen wurde?

2. Ist der Versuch, zum Beischlaf zu verführen, strafbar? 3. Sind unzüchtige Betastungen nach § 116 strafbar?

Ich glaube in der Lage zu sein, diese Fragen mit einiger Bestimmtheit beantworten zu können, da der § 116, wie die Novelle vom 27. Juni 1897 überhaupt, sich ziemlich eng an den Vorentwurf zu einem schweizerischen Strafgesetzbuch, und zwar an die erste Fassung des Entwurfs, anschliesst. Ich habe dies in der Zeitschrift für schweizerisches Strafrecht, 8. Jahrgang 1895, S. 200 ff., nachgewiesen.

Art. 102 Verführung) des schweizerischen Vorentwurfs war so gefasst:

...Wer die Unerfahrenheit, das Vertrauen, die Not oder die Abhängigkeit eines minderjährigen Mädchens arglistig missbraucht, um sie zur Unzucht zu verführen, wird mit Gefängnis nicht unter 1 Monat bestraft.

War die Frauensperson noch nicht 16 Jahre alt, so ist die Strafe Gefängnis nicht unter 6 Monaten.“

Die Fassung des § 116 des Zürcher Strafgesetzbuches:

,Wer ausser den Fällen von § 115 und § 116 (?) die geschlechtliche Unerfahrenheit von Minderjährigen, die Not

oder die Abhängigkeit einer Person missbraucht, um sie zur Unzucht zu verführen, wird mit Gefängnis nicht unter einem Monat bestraft",

zeigt eine auffallende Übereinstimmung mit der Bestimmung des Entwurfs, jedoch auch einzelne Abweichungen.

Über die Tragweite des § 102 des Entwurfs lassen die Motive, wie sich aus dem einleitenden Satz zu § 102 ergiebt, nicht den geringsten Zweifel :

„Die durch List bewerkstelligte Verführung einer Frauensperson zum Beischlaf wird nicht allgemein mit Strafe bedroht, sondern nur unter der doppelten Voraussetzung, dass die Verführte ein minderjähriges Mädchen ist und dass der Thäter ihre Unerfahrenheit, ihr Vertrauen, ihre Not oder Abhängigkeit missbraucht hat."

In der Folge wurde diese Bestimmung noch wesentlich eingeschränkt, aber von Anfang an wurde die deliktische Handlung in der Verführung zum Beischlaf erblickt und nicht in andern unzüchtigen Handlungen.

Der missverständliche Ausdruck „Unzucht" wurde von dem Verfasser des Vorentwurfes schon vor der ersten Lesung der Bestimmung in der Expertenkommission durch den Ausdruck Beischlaf“ ersetzt und folgende Fassung zur Diskussion gestellt: Wer die Unerfahrenheit, das Vertrauen, die Not oder die Abhängigkeit eines minderjährigen Mädchens missbraucht, um sie zum Beischlaf zu verführen, wird mit Gefängnis bestraft."

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Vergl. Verhandlungen der Expertenkommission, II. Band, 1896, S. 183 und (zweite Lesung) 586, ferner mein Bericht über den Vorentwurf, zweiter Teil, Bern 1901, S. 24, und Zeitschrift für schweizerisches Strafrecht, 14. Jahrgang, 1901, S. 92 ff.

So fragt sich nun, wie die Bestimmung des Zürcher Strafgesetzbuches in dieser Hinsicht aufzufassen ist.

Der gegenwärtige § 116 entspricht in der Hauptsache dem § 111, wie er in dem Initiativbegehren vom 15. Juni 1895 betreffend Abänderung und Ergänzung des Zürcher Strafgesetzbuches vorgeschlagen war. (Abgedruckt in der Zeitschrift für schweizerisches Strafrecht, 8. Jahrgang, 1895, S. 209 ff.) Zur Begründung des § 111 wurde folgendes angeführt:

Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht. 15. Jahrg.

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„SS 111 und 112. Leider sind die hier angeführten Fälle in mannigfacher Art nicht selten, und dem arglistigen Missbrauch einer Person sollte unbedingt eine Strafe folgen. Bis jetzt war dies nicht möglich, wenn nicht Wehr- und Bewusstlosigkeit oder Geisteskrankheit vorlag." (Zeitschrift ebenda, S. 213.)

Damit nahm die Begründung auf den bisherigen § 112, nunmehrigen § 111, des Zürcher Strafgesetzbuches Bezug. Nach dieser Bestimmung wird der Missbrauch zum ausserehelichen Beischlaf wehr- und bewusstloser oder geisteskranker Frauenspersonen strafbar erklärt. Diese Bezugnahme lässt den Schluss zu, dass die Initianten unter der Verführung zur Unzucht, wie der schweizerische Vorentwurf, die Verführung zum Beischlaf verstanden haben. Die ungenaue Ausdrucksweise des schweizerischen Entwurfs, die freilich ursprünglich auf dem Gedanken beruhte, Unzucht an Frauen und Männern gleichmässig zu behandeln, übertrug sich auf die Vorschläge der Initianten, obwohl der Vorentwurf damals schon verbessert war, was jedoch den Initianten wohl nicht bekannt war.

Jener ursprüngliche Gedanke des schweizerischen Vorentwurfs, auch die Unzucht an Männern in den Strafschutz einzubeziehen, führte wahrscheinlich dazu, als geschützte Personen nicht nur Personen weiblichen Geschlechts zu nennen, sondern in dem einen Fall schlechthin „Minderjährige“, in dem andern Fall Personen". Damit wird auch die widernatürliche Unzucht zwischen Personen des nämlichen Geschlechts unter den Voraussetzungen des § 116 strafbar. Ich gehe hierauf nicht weiter ein, da diese Frage für den zu begutachtenden Fall keine Bedeutung besitzt.

Aus diesem gesetzgeberischen Gedanken ergeben sich jedoch wichtige Schlüsse für die Auslegung des Ausdrucks „Unzucht“ in § 116.

Es ergiebt sich nämlich daraus, dass der Ausdruck „Unzucht" nicht gewählt wurde, um auch andere unzüchtige Handlungen als den Beischlaf, die an weiblichen Personen begangen werden, strafbar zu erklären. Mit dem Ausdruck „Unzucht" wurde lediglich bezweckt, nicht nur weibliche, sondern auch männliche Personen unter Strafschutz zu stellen.

Demgemäss bedeutet Unzucht in § 116: Beischlaf oder widernatürliche Unzucht (vergl. auch Zürcher, Kommentar,

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