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werden, der Unzucht den Boden zu bereiten oder sie geradezu zu fördern und zu ihr anzureizen (ad 4, 5).

Gar nicht macht der Entwurf den doch vergeblichen Versuch, den Einzelnen vom eigenen unzüchtigen Leben abzuhalten, solange dadurch nicht andere Rechtsgüter angegriffen werden; nur in engen Schranken schützt er das Sittlichkeitsgefühl (ad 6). Dieses System erkennt sehr richtig die Bedürfnisse unserer Zeit, die in vielfachen Forderungen stets dahin ausgesprochen werden: Der Einzelne soll möglichst grosse Freiheit haben, aber da der Staat einem jeden ein geordnetes Geschlechtsleben in der Ehe ermöglicht, ja dieses zur Grundlage seines eigenen Bestehens macht, so muss er auch das ungeordnete Geschlechtsleben zu beschränken suchen; das Strafrecht thut das natürlich nur gegenüber den gröbsten Auswüchsen, gegenüber den Angriffen, die die Freiheit anderer bedrohen (Zuhälter, Kuppler, Mädchenhändler), die schutzlose Schwäche anderer benutzen, das Sittlichkeitsgefühl grob verletzen oder die auf die Geschlechtslust anderer spekulieren und sie anreizen, nie aber durch einen unmittelbaren Eingriff in die geschlechtliche Freiheit des Einzelnen.

In diesem System hat der Schutz der Minderjährigen ganz natürlich einen bedeutenden Platz einzunehmen. Er hat ihn im Entwurf ausdrücklich erhalten in Art. 112 (unzüchtiger Missbrauch von Kindern), 113 Missbrauch Pflegebefohlener und anderer abhängiger Minderjähriger), Art. 118 (Qualifikation des Mädchenhandeis) und Art. 124 (widernatürliche Unzucht mit Minderjährigen), und auch in Art. 107 (Entführung von Kindern zu unzüchtigen Zwecken. Wenn nun eine Erweiterung und Verstärkung dieses Schutzes erstrebt wird, so weichen wir nicht im Grundgedanken, sondern nur in der Frage des Masses vom System des Entwurfes ab1).

d) Schon in der Litteratur zum Entwurf und in verschiedenen Petitionen wird auf diese Verstärkung hingewiesen. Einige Kritiker besprechen diesen Punkt freilich kaum oder gar nicht. v. Lilienthal, der in der Zeitschrift für die gesamte

1) Wir bemerken zu unserer Genugthuung, dass die „Verführung Minderjähriger“ von der jetzigen Kommission zur Förderung des Strafgesetzwerkes wieder aufgenommen wurde.

Strafrechtswissenschaft, Band 15, die grosse Strenge der Strafbestimmungen tadelt was aber unsere Idee nicht berührt -nennt daselbst, Seite 333, nur die Bedrohung der Verführung Minderjähriger „sachgemäss, da die Gefahr, einem Verführer zu unterliegen, für das 16.-21. Lebensjahr sicher nicht geringer ist wie für die Zeit bis zum 16."

Ebenso findet der Gedanke des Schutzes Minderjähriger bei andern Anklang. Professor Zürcher nennt den Schutz der weiblichen Jugend die wichtigste Frage dieses Kapitels und glaubt, dass die Verführung von Mädchen bis 18 Jahren noch sehr wohl aufgenommen werden könne (Revue de Morale sociale, I, p. 149, 150). Am weitesten geht Louis Bridel in der Schweizerischen Zeitschrift für Strafrecht, Band X, der Wiederherstellung des Art. 105 aus dem Entwurf 1894 als Art. 116 bis, Erhöhung des Schutzalters in Art. 112 auf 16 Jahre und Bestrafung der Verführung einer Minderjährigen in Art. 115 bi▪ vorschlägt (1. c., S. 48–53).

Die bisherigen Eingaben zu diesem Kapitel erschöpfen die einschlagenden Fragen nirgendwo. Die Eingabe des Comité intercantonal des Dames de la Fédération vom Februar 1892 Revue de Morale progressive 1892, p. 201 ss.) schlägt vor: absoluten Schutz von Kindern bis 14 Jahren (Art. 5, 9), von Mädchen bis 16 Jahren (Art. 6, 10), erhöhte Strafe bei Notzucht und unzüchtiger Nötigung gegenüber Mädchen unter 16 Jahren (Art. 3, 8), bei Verführung unter Eheversprechen gegenüber Minderjährigen (Art. 12) und bei Verkuppelung Minderjähriger (Art. 31).

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Die Eingabe des zürcherischen Frauenbundes zur Hebung der Sittlichkeit vom September 1892 (Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht, VI, S. 442 wünscht nur ganz allgemein: 1. Der Schutz der Jugend beiderlei Geschlechts soll bis zum Eintritt ins volljährige Alter ausgedehnt werden." Die Union für Frauenbestrebungen wünscht im Juni 1897 in einer Eingabe nur zu Art. 112 Erhöhung des Schutzalters von 15 auf 18 Jahre (Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht, Bd. X, S. 315). Denselben Gedanken hat die Schweizerische Predigergesellschaft in ihrer Versammlung 1900 diskutiert (siehe Schweizerische Zeitschrift für Strafrecht, XIV, S. 87).

Man sieht, damit ist die Frage noch nicht genügend erörtert und nicht erschöpft.

e) Beachten wir zum Schluss, dass den Schutz der Jugend schon der Strafgesetzentwurf verstärkt durch die Bestimmung des Art. 35: „Entziehung der elterlichen oder vormundschaftlichen Gewalt", wenn sich jemand durch ein Verbrechen ihrer unwürdig machte 1). Dieser Gedanke wird erweitert ausgeführt durch die Art. 311, 313, 473 des Civilgesetzentwurfes, der ferner in Art. 312 die Verwahrlosung des Kindes vorsieht. Dieser Entwurf giebt uns aber auch durch die Bestimmung des Art. 116, wonach das Ehemündigkeitsalter für den Bräutigam auf 20, für die Braut auf 18 Jahre (oder, wie die Expertenkommission beschlossen haben soll, „17“ Jahre) festgesetzt wird, eine Mahnung, bis dahin die Jugend vor Unkeuschheit zu bewahren.

III. In schärferer Durchführung der Grundsätze der Entwürfe, nicht im Gegensatz zu ihnen, stellt der Bund schweizerischer Frauenvereine seine Postulate auf.

Die dafür massgebenden allgemeinen Gedanken sind die:

a) Das Strafrecht enthält nicht etwa eine Moraltheorie. Nicht alles Unmoralische muss auch strafbar sein, wie nicht immer das Strafbare unmoralisch ist. Aber das Strafrecht schützt doch auch die Moral. Diese ist, abgesehen von jeder andern Auffassung, jedenfalls ein ideales Lebensgut, das für den Bestand der Gesellschaft und des Staates als nötig anerkannt ist und das daher vom Staate geschützt werden darf und muss. Es giebt Angriffe auf die Moral, unmoralische Handlungen, die in ihrer Wiederholung eine schwere Gefahr für unsere Ordnung enthalten und deswegen ohne jedes Bedenken verboten und auch bestraft werden. Der Gesetzgeber nimmt aber solche Angriffe nicht in das Strafgesetz auf, um sie als sittlich verwerflich zu kennzeichnen, sondern nur um sie abzuwehren, da sie eine Gefahr bedeuten; diese mag gerade darin liegen, dass sie sittlich verwerflich sind. Wenn jedoch der Staat irgend einen Angriff als strafbar erklärt, bezeichnet er ihn zugleich vom socialen Standpunkte aus als verwerflich.

1) Hier wünscht aber die eben angeführte Petition der Union für Frauenbestrebungen obligatorische Entziehung bei Sittlichkeitsdelikten.

Er kann damit moralisch erziehend wirken. Aber er schützt in dieser Art die Lebensgüter aus reinen Nützlichkeitserwägungen nicht gegen alle Angriffe, sondern nur gegen bestimmte schwere, und auch gegen sie nur dann, wenn er glaubt, sie durch Strafe abwehren zu können. Der Gesetzgeber hütet sich, Normen aufzustellen, deren Durchführung er nicht erzwingen kann, weil sie den allgemeinen Anschauungen zu sehr widerstreben oder sich mit der menschlichen Natur zu wenig vertragen oder deren zwangsweise Durchführung auch schlimme Folgen hätte. Auch sucht er nur diejenigen Angriffe auf Lebensgüter zu strafen, welche der einzelne Träger der Güter nicht selbst genügend abwehren kann, wegen seiner Schwäche oder der Art des Angriffs; er will in die freie Rechtsschutzbewegung möglichst wenig eingreifen. Doch kann man nicht a priori hier die Grenze ziehen; es kommt ganz auf die Anschauungen und Bedürfnisse einer Zeit an, wie weit der Staat dem Einzelnen beisteht. Ja, vielleicht drängt er diesem sogar einen Schutz gegen dessen Willen auf. Der Staat muss nämlich auch Angriffe, die zwar der Einzelne abwehren könnte, die er aber zu lässig ist, abzuweisen, oder die so häufig vorkommen, dass ihre Menge eine Gefahr für das Rechtsleben bildet, strafen. Er erkennt oft, dass ein völlig freies Verfügen der Einzelnen über sich und ihre Lebensgüter seinen eigenen Bestand schwer gefährden müsste. Dies Unterwerfen des eigenen Einzelinteresses unter das Gesamtinteresse ist bekanntlich ein bei dem germanischen Stamm stärker als bei den Romanen ausgeprägter Zug. Es ist aber auch bekanntlich ein in der heutigen Rechtsentwicklung allgemein hervorstechender Zug. So kann auch sehr wohl die Geschlechtsmoral des Einzelnen dem Allgemeininteresse unterworfen werden, und sie wird es seit jeher in der Eheordnung in hohem Masse.

Und weiter straft der Staat die Handlungen aus dem Grunde, weil sie eine Gefahr geistiger Ansteckung enthalten; er muss dagegen sich schützen, dass gewisse Handlungen den Geist anderer beeinflussen. Wo eine schädliche Handlung diesen Charakter nicht hat, wird selten eine Strafe angebracht sein.

Wir dürfen wohl davon absehen, für die Geschlechtshandlungen diesen Suggestivcharakter noch besonders zu beweisen. Aber die Fragen sind noch genauer zu untersuchen, ob wirk

lich der Angriff auf die geschlechtliche Freiheit und das geschlechtliche Sittlichkeitsgefühl eine Gefahr für den Staat bildet. und ob dagegen das Strafgesetz etwas helfen kann.

b) Dass geschlechtliche Reinheit für Gesellschaft und Staat ein sehr wichtiger Faktor, bezweifelt ernstlich wohl niemand: Geschichte und Einzelerfahrung sprechen zu deutlich. Wir kennen die grossen Gefahren, die für den Einzelnen in seiner eigenen Unkeuschheit für die Gesamtheit in der allgemeinen Unzucht für Gesundheit, Charakter, Ehe und Vermögen liegen. Das gilt besonders auch für den Mann.

Von hohem Werte wäre es daher, wenn wir vom Einzelnen ein streng geordnetes Geschlechtsleben fordern und erlangen könnten. Manche Strafgesetzgebungen haben das versucht, aber ihre Rigorosität scheiterte an der menschlichen Natur, auch an der Roheit der Massen, der Unkenntnis des Volkes über die Gefahr, der Schwäche des Staats und dem Fehlen jeder freiwilligen Unterstützung durch freie Moralthätigkeit. Man hat daher erkannt, dass hier die Sitte mächtiger wirken könne als das Strafgesetz, und man hat ihr die Regelung völlig überlassen. Aber wenn auch die Sitte hier absolut notwendig ist, bisher hat das System grösserer strafrechtlicher Zurückhaltung keine Erfolge erzielt; die geschlechtliche Unmoral wuchs und ihre Gefahr ist grösser.

Dies besonders zu beweisen, können wir hier unterlassen. Wir weisen auf jedes Lehrbuch der Psychiatrie und Psychopathologie hin. Der bekannte Forscher r. Krafft-Ebing sagt in seiner Psychopathia Sexualis (X. Auflage, 1898, S. 304 f.): „Aus der Kriminalstatistik ergiebt sich die traurige Thatsache, dass die sexuellen Delikte in unserm modernen Kulturleben eine fortschreitende Zunahme aufweisen, darunter ganz speciell die Unzuchtsvergehen an Individuen unter 14 Jahren." Er bringt das in Zusammenhang mit der überhandnehmenden Nervosität und weist auf die hohe Gefährlichkeit vieler Thäter dieser ,,tief in das Interesse und Wohl der Gesellschaft eingreifenden Delikte hin). Unzählig sind die Schriften über diesen Punkt, überall beschäftigt er die Öffentlichkeit.

1) Die schweizerische Kriminalstatistik für die Jahre 1892–1896 (1900) führt Seite 9 an, dass 9,4% aller Inhaftierten wegen Vergehen und Ver

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