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Gegenüber dieser wirklichen und in zahlreichen Fällen vorhandenen Notlage ist für die Entlassenen die Hülfe, welche ihnen eine mit wohlwollender Teilnahme und dem richtigen Verständnis für die tatsächlichen Bedürfnisse rasch und eingreifend vorgehende Schutztätigkeit zu gewähren im stande ist, die wirksamste und vertrauenerweckendste Stütze, und gerade hierin liegt der Beweis für den hohen sozialen Wert dieser Art von Fürsorge, als der unerlässlichen Ergänzung der durch einen rationellen Strafvollzug erzielten guten Erfolge, zugleich aber auch der überzeugendste Grund für die Notwendigkeit ihrer Gewährung.

Wird die Schutzaufsicht durch einen Verein an die Hand genommen, so wird der Vereinsapparat nicht zu vermeiden, sondern beizubehalten sein: Statuten, Organisation, Jahresversammlung, Jahresbericht, Mitgliederbeiträge u. s. w. Macht die schutzvereinliche Tätigkeit den Verkehr mit den Staatsbehörden oder mit gleichgearteten Vereinigungen notwendig, so ist auch dessen formelle Regelung wünschenswert.

Das ist unumstösslich richtig, dass die gesetzliche Regelung der Schutzaufsicht der freien Tätigkeit hinderlich wäre, wenn nicht in der gesetzlichen Organisation der letztern auch eine Stelle eingeräumt ist, wie das der Entwurf tut, den wir nun kennen; aber auch das andere ist nach allen Erfahrungen unwiderleglich, dass die freie Tätigkeit von Vereinen leicht erkaltet, indem die Begeisterung und Hingebung ihrer Gründer sich nicht forterbt von Geschlecht zu Geschlecht, sondern erlahmt, auf andere Gebiete sich verlegt, so dass die materiellen Mittel, welche aus freien Gaben und Vereinsauflagen stammen, nicht mehr ausreichen und das Werk der Schutzaufsicht lahm gelegt ist. Wohlverstanden, sagen wir nochmals, nicht Geldgaben sind es, welche die Schutzaufsicht erfordert, sondern in der Arbeitsvermittlung liegt ihre, allerdings gelderheischende, Aufgabe, welche die wichtigste unter ihren Pflichten ist und bleiben wird. Abgesehen aber von den allgemeinen Grundsätzen gilt für die schutzvereinliche Tätigkeit vor allem die Regel, dass sie sich den lokalen Anschauungen und Bedürfnissen anzupassen hat, jedem Verdacht einer polizeilichen Überwachung von Anfang aus dem Wege geht, für die Heranziehung geeigneter Persönlichkeiten, es seien solche, die mit dem Strafvollzuge zu tun haben oder ausserhalb desselben stehen, aber mit vollem warmem Herzen für die Gefangenen besorgt ist. Wird diese Regel im Auge behalten, so wird die Fürsorge ihren Weg machen, wie eingangs bemerkt, durch Erfolge und Misserfolge, aber stets vergessend den Misserfolg, stets sich freuend eines einzigen Erfolges unter hundert

Fällen, nimmer ermüdend, stets glaubend, liebend, hoffend, siebzigmal siebenmal vergebend in der Zuversicht, dass ein göttliches Allerbarmen auch den Sünder trägt und ihn trotz allen seinen Rückfällen nicht dem Verderben überlassen, sondern ihn retten will und so ihm helfen, dass er ein ewiges Leben habe.

Zum Schlusse fügen wir noch das Wesentliche aus den Thesen bei, welche der treffliche Direktor der aargauischen Strafanstalt an der Jahresversammlung des schweizerischen Vereins für Straf-, Gefängnis- und Schutzaufsichtswesen 1901 in Zürich über die Schutzaufsicht aufgestellt hat.

1. Die Schutzaufsicht für entlassene Sträflinge sei und bleibe ein Werk der christlichen Nächstenliebe und als solches ein Werk der freiwilligen Tätigkeit der organisierten Schutzaufsichtsvereine oder der Schutzaufsichtskommissionen.

2. Die Schutzaufsicht darf keinen speziellen, tendenziös-kirchlichen Charakter haben und nicht im Dienste einer bestimmten Konfession stehen, sondern sie muss allgemein sein und ohne Ansehung des religiösen Bekenntnisses und der Konfessionszugehörigkeit alle jene Unglücklichen umfassen, welche ihrer Hülfe bedürfen.

3. Die Tätigkeit der Schutzaufsichtsorgane hat schon während der Enthaltungszeit zu beginnen, hauptsächlich durch die Anstaltsgeistlichen.

Die übrigen Thesen beziehen sich auf spezielle Punkte, die für diese Versammlung nicht in Betracht fallen.

Der Sprechende ist mit These 1 insofern nicht einverstanden, als dieselbe die Schutzaufsicht ausschliesslich auf den Boden der Freiwilligkeit stellt. Die Erfahrungen, welche im Kanton Bern seit mehr als sechzig Jahren gemacht worden sind, die speziellen Erfahrungen des Referenten während beinahe vier Jahrzehnten schutzfreundlicher Mühwalt, lassen als das Richtige die gesetzliche oder amtliche Organisation der Schutzaufsicht erkennen, namentlich mit Berücksichtigung der bedingten Entlassung und bedingten Verurteilung, aber eine Organisation, welche auch der freien Liebestätigkeit Raum schafft für solche Werke der Bruderliebe, welche der Buchstabe des Gesetzes nicht zu erfüllen vermag, sondern einzig und allein der Glaube, der sich in der Liebe tätig erweist. Darum befürwortet der Referent eine solche Organisation auch für den Kanton Solothurn und beglückwünscht die Gemeinnützige Gesellschaft zu ihrer bezüglichen Initiative in der Hoffnung des erwünschten Erfolges.

Entscheidungen in Strafsachen.

Jurisprudence pénale.

Kantonale Gerichte. Tribunaux cantonaux.

Aus der Rechtsprechung

des

Kassationsgerichtes des Kantons Zürich in Strafsachen während der Jahre 1900-1902.

1. Urteil vom 20. Dezember 1900 in Sachen der Elisabetha Strub von Läufelfingen, Baselland, gegen die Staatsanwaltschaft, betreffend Kindsmord, Kassationsbeschwerde gegen ein Urteil des Schwurgerichts vom 14. November 1900.

1. Die Angeklagte gebar am 17. August 1900 ein Mädchen, legte sich nach ihrer eigenen Angabe mit geschlossenen Beinen auf dasselbe und verbarg die Leiche nachher im Koffer, wo sie am 12. September im Zustand fortgeschrittener Verwesung gefunden wurde.

2. Die Staatsanwaltschaft erhob am 27. September Anklage wegen Kindsmords im Sinne von § 137 des Strafgesetzbuches. Da sich die Angeklagte nichtschuldig erklärte, fand am 27. Oktober die Hauptverhandlung vor Schwurgericht statt. Im Verlauf derselben reduzierte der Staatsanwalt mit Rücksicht auf die Unmöglichkeit, den Beweis für das Leben des Kindes zu erbringen, die Anklage auf Kindesbeseitigung (§ 139 des Strafgesetzbuches). Die Angeklagte wurde dann auch dieses Verbrechens schuldig erklärt und vom Schwurgerichtshof zu 2 Jahren Arbeitshaus verurteilt, und zwar wurde dabei der Strafschärfungsgrund des ersten Rückfalls (§ 66 des Strafgesetzbuches) in Berücksichtigung gezogen, da die Angeklagte am 27. Oktober 1897 vom Obergericht schon einmal und zwar wegen Kindsmords zu einer Strafe von 22 Jahren Arbeitshaus verurteilt worden war.

3. Wegen der Annahme eines Rückfalles als Schärfungsgrund im vorliegenden Fall erhebt der Anwalt der Angeklagten Kassationsbeschwerde gegen dieses Urteil, indem er das Vorhandensein eines Rückfalls bestreitet und Herabsetzung der Strafe verlangt. Er sieht in der Anwendung des § 66 des Strafgesetzbuches eine Verletzung materieller Gesetzesvorschriften (§ 1091, Ziffer 6, des Rechtspflegegesetzes). Zur Begründung seiner Beschwerde stützt er sich darauf, dass gemäss § 66 des Strafgesetzbuches ein Rückfall nur dann vorhanden ist, wenn jemand, nachdem er wegen eines Verbrechens rechtskräftig verurteilt worden ist, sich wieder eines Verbrechens gleicher Art schuldig macht. Er bestreitet, dass das Verbrechen der Kindesbeseitigung gleicher Art mit demjenigen des Kindsmordes sei. Er sieht in der Kindesbeseitigung nicht ein Verbrechen gegen das Leben des Kindes, sondern nur ein Verbrechen gegen den Staat, welcher ein Interesse daran habe, dass die Geburtskontrollen richtig geführt, resp. seine Justizhoheit respektiert werde, da die Kindesbeseitigung zur Vertuschung von Beweismitteln führen könne.

4. Diese Begründung der Kassationsbeschwerde ist aber zu verwerfen. Die Beseitigung des neugebornen Kindes ist in den meisten Fällen mit der Gefährdung seines Lebens verbunden. Während und nach der Geburt wird die Beseitigung des Kindes nur auf Kosten der übrigen Pflege möglich sein, also das Leben des Kindes gefährden. Der vorliegende Fall ist ein deutliches Beispiel dafür. Die Geburt fand ohne jeglichen Beistand statt und das Kind blieb zum Zweck seiner nachherigen Beseitigung ohne Pflege in einer Lage, welche seinen Tod herbeiführen musste, wenn es gelebt hat. Höchst wahrscheinlich liegt faktisch ein Kindsmord vor, und nur der Mangel an dem Beweis des Lebens des Kindes verhinderte die Verurteilung der Mutter wegen Kindsmords.

5. Es ist daher nicht ein Versehen des Gesetzgebers, dass die Kindesbeseitigung in dem Abschnitt des Strafgesetzbuches über Verbrechen gegen Leben und Gesundheit behandelt wird, es ist vielmehr der Beweis, dass er das Verbrechen der Kindesbeseitigung als eine Gefährdung des Lebens und der Gesundheit des Kindes behandeln und strafen wollte. Hierfür spricht auch das angesetzte Strafmass, welches bis auf 5 Jahre Arbeitshaus ansteigt, also in keinem Verhältnis zum Vergehen stünde, wenn dasselbe sich nur gegen die Richtigkeit der Geburtsregister und die Justizhoheit des Staates richtete.

6. Die Kindesbeseitigung muss also unbedingt als ein Verbrechen gleicher Art wie der Kindsmord angesehen werden, und das Schwurgericht hat in richtiger Weise im vorliegenden Fall das Vorhandensein des Rückfalls als Strafschärfungsgrund angenommen.

Demnach hat das Kassationsgericht beschlossen:

Die Kassationsbeschwerde wird abgewiesen.

2. Urteil vom 22. Januar 1902 in Sachen Waldschmidt und Konsorten, betreffend Zweikampf.

1. Mit Anklageschrift vom 17. August 1899 erhob die Bezirksanwaltschaft Zürich beim Bezirksgerichte Zürich Anklage gegen die Studenten Waldschmidt und Klein wegen Übertretung des § 92 des Strafgesetzbuches und gegen fünf weitere Personen wegen Gehülfenschaft bei dem eingeklagten Vergehen gemäss § 94 ibidem. und beantragt deren Bestrafung nach den Bestimmungen der §§ 92 und 94. Das Bezirksgericht Zürich, II. Abteilung, sprach indes durch Urteil vom 18. September 1899 sämtliche Angeklagten frei, in der Hauptsache mit der Begründung, da das Duell in freundschaftlicher Weise verabredet war, eine Herausforderung somit nicht stattgehabt, falle der eingeklagte und festgestellte Tatbestand nicht unter den mit Strafe bedrohten Tatbestand eines Duells im Sinne des § 92 des Strafgesetzbuches.

2. Auf die Appellation der Staatsanwaltschaft erklärte indes die Appellationskammer des Obergerichtes unterm 23. November 1899 die sämtlichen Angeklagten gemäss der Anklageschrift schuldig und belegte sie mit Strafen, wobei sie ihr Urteil im wesentlichen folgendermassen begründet: Aus der Geschichte unserer kantonalen Bestimmungen gegen das Duellwesen geht hervor, dass unter dem nach § 92 des Strafgesetzbuches strafbaren Duell auch dasjenige auf Schläger und zwar ebenfalls bei sogenannten Bestimmungsmensuren verstanden sein solle. Mit dieser Auffassung befindet sich in Übereinstimmung die von den Gerichten bisher beobachtete Praxis. Da der § 92 auch den Herausgeforderten, selbst wenn er keine Veranlassung zur Herausforderung gegeben hat, mit Strafe bedroht, so kann die Herausforderung oder das Vorhandensein eines Herausforderers und eines Herausgeforderten kein wesentliches Merkmal des von unserm Strafgesetzbuche mit Strafe bedrohten Duells bilden, es begreift also auch die sogenannten Freundschaftsmensuren in sich.

3. Gegen das obergerichtliche Urteil erheben die Verurteilten mit Rechtsschrift vom 27. November 1899, eingegangen am gleichen Tage, also rechtzeitig, Kassationsbeschwerde gestützt auf § 1091, Ziffer 6, des Rechtspflegegesetzes und beantragen Aufhebung jenes Entscheides und Freisprechung aller Angeklagten, unter folgender Begründung:

Das stattgehabte Duell sei nicht strafbar : a) weil nicht tödliche Waffen gebraucht wurden; b) weil das Moment der Herausforderung fehle; c) weil den Tätern der Dolus fehle, und

d) weil beim Mangel einer unberechtigten Selbsthülfe und beim Vorhandensein einer freundschaftlichen Vereinbarung über das Duell von einem Vergehen gegen den Frieden nicht gesprochen werden könne.

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