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Deutsches

Staats- Wörterbuch.

In Verbindung mit deutschen Gelehrten

berausgegeben von

Dr. J. C. Bluntschli und K. Brater.

Siebenter Band.

Stuttgart und Leipzig, 1862.

Expedition des Staats- Wörterbuchs.

ständig war er in dieser Richtung befangen, daß er ernstlich damit umging, sich in den Franciskanerorden aufnehmen zu lassen. Aber seine Jugendkraft ließ sich nicht bändigen; hatte er ihr schon früher nicht immer zu widerstehen vermocht, so trieb sie ihn auch jezt aus dem Kloster heraus. Nach einer kurzen Reise, auf der er Löwen und Paris besuchte, heirathete er und begann, um seine Existenz zu sichern, als Advokat thätig zu sein. Bald wurde er Untersheriff von London, später Friedensrichter. Seine Geschäftsgewandtheit und Beredtsamkeit waren bekannt; ebenso sein Wig und seine Unterhaltungsgabe. So wurde Heinrich VIII. auf ihn aufmerksam und verwandte ihn mehrfach zu politischen Missionen, hauptsächlich in der Eigenschaft eines Drator. Eine königliche Besoldung dafür schlug er aus; er wollte als Stadtbeamter seine Unabhängigkeit wahren.

In diese Zeit fällt zugleich der bedeutendste Theil seiner literarischen Thätigkeit. Zuerst Epigramme, ein Gedicht zur Krönungsfeier Heinrichs VIII. in froftigen Versen voll maßlosen Lobs und ausschweifender Hoffnungen, dazu literarische Fehden in Prosa und Versen, gegen Bririus zur Bertheidigung der englischen Nationalehre, gegen den Löwener Dorpius für des Erasmus Lob der Narrheit. Wichtiger war seine Geschichte Richards III., hauptsächlich deshalb, weil er sie zuerst englisch verfaßte, wenn auch später eine lateinische Ausarbeitung nach dem Geschmacke des Livius folgte; er war überhaupt einer der Ersten, die eine lesbare englische Prosa schrieben. Das bedeutendste Produkt aber ist seine Utopia, das Vorbild einer Reihe von Staatsromanen. 1) Der erste Gedanke derselben tam ihm, als er 1515 als Mitglied einer königlichen Gesandtschaft in den Niederlanden war; ihre Abfaffung fällt ins Jahr 1516. Offenbar hat ihm die platonische Republik vorgeschwebt, die ihn schon in Oxford so lebhaft beschäftigt hatte, daß er zu ihrer Rechtfertigung einen Dialog verfassen wollte. Allein sein Ausgangspunkt ist ein wesentlich anderer als der des Philosophen. Statt daß er philosophisch aus der Natur des Menschen das Wesen des Staats und seine nothwendigen Formen, den Ursprung der Staatsgewalt und ihre Vertheilung an verschiedene Organe de ducirte, geht er empirisch und praktisch zu Werke, begnügt sich mit den Voraus. segungen einer gewöhnlichen Lebensweisheit, die als Zweck des Lebens möglichst unverfümmerten Genuß der leiblichen und geistigen Güter ansieht, und mit zelegentlichen Bemerkungen, wie die, daß der König um der Unterthanen willen da sei, und geht vor Allem darauf aus, den Uebelständen, die er in seinem Vaterlande gefunden hat, ihre Gegensäße gegenüberzustellen. Diese Uebelstände liegen aber nicht im Gebiete der Verfassung, die ganz obenhin behandelt wird, sondern in den socialen Zuständen, in der Bertheilung von Eigenthum und Arbeit. Darauf weist der erste Theil des Werkes hin, den More nachträglich dem zweiten vorseßte; dort werden ausdrücklich die Mißstände Englands besprochen. Ein weitgereister Mann, Raphael Hythlodäus, den More bei seinem Freunde Aegidius in Antwerpen trifft, erzählt nämlich von Gesprächen, an denen er an der Tafel des Kardinals Morton Theil genommen. Es sei verkehrt, die Diebe zu hängen und Zustände bestehen zu lassen, die nothwendig Diebe machen. Dahin gehörten die Menge der müßigen Menschen im Gefolge der Großen, die Söldnerheere, die Vereinigung großen Besites in den Händen Weniger und insbesondere die Liebhaberei für Viehzucht, die vielen Pächtern und Hörigen ihre Grundstücke entziehe, Fragen, mit denen sich eben damals die englische Gesetzgebung beschäftigte. So ist die

1) S. Mohl, Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften.

Richtung der Utopia dieselbe, die Heinrich VIII., getreu seinem Lieblingsspruche, daß Müßiggang aller Laster Anfang sei, in seinen Geseßen über sociale Fragen verfolgte, Bekämpfung der Armuth durch Organisation der Arbeit und Beseitigung der Uebelstände, welche die ungleiche Vertheilung des Besizes hervorruft. „Die europäischen Staaten sind eine Verschwörung der Reichen in ihrem Interesse." Dann gibt er im zweiten Buche eine Schilderung der Einrichtungen der Insel Utopia, die jenseits Amerika im Weltmeere liegt und keinem Europäer sonst bekannt ist.

und

Das Wesentliche ihrer Einrichtungen besteht darin, daß es kein Eigenthum gibt, dagegen Jeder ohne Ausnahme zu arbeiten hat. Hauptsorge der Regierung ist, daß Niemand müßig geht; für Arbeitsscheue und Vagabunden bestehen die härtesten Strafen. Die Erzeugnisse der Arbeit sind gemeinschaftlich; so kann man das Geld, die Ursache aller socialen Uebel, entbehren, und es behalten alle Glieder des Staates Muße genug zur geistigen Ausbildung. Allen gemeinschaftlich ist die Theilnahme am Ackerbau, sonst betreibt Jeder ein Handwerk; nur wer sich den Studien widmet, wird von der sonst allgemeinen Verpflichtung zur Arbeit eximirt; aus diesen werden die Obrigkeiten und die Geistlichen gewählt. Diese Einrichtung wird nun mit Phantasie und Wiz ins Detail ausgeführt, ihre Vortheile für das allgemeine Wohl und den Charakter der Bürger werden gezeigt. Ehegesetgebung, Strafrechtspflege u. A. wird dann behandelt; die Hauptstrafe ist Sklaverei, d. h. Verpflichtung zu den niedrigsten Arbeiten; Todesstrafe tritt nur in wenigen Fällen ein. Besonders auffallend tritt hervor, was er über die Religion sagt. Nicht nur findet sich deutlicher Spott auf die Trägheit und den Müßiggang der Mönche wer dort heilig leben will, arbeitet mehr als die andern zweideutiges Lob ascetischen Lebens, nicht nur ist die Priesterehe dort allgemein eingeführt; der wichtigste Grundsaß ist der der allgemeinen Duldung aller Arten, ein göttliches Wesen zu verehren. Die Einen beten Sonne, Mond und Sterne, Andere vergötterte Menschen, die meisten ein unendliches höchstes Wesen an; aber keiner wird wegen seiner abweichenden Ansicht verfolgt; im Gegentheil wird Keßerhaß als Unruhestiftung bestraft; denn man kann ja nicht wissen, ob nicht Gott selbst eine Mannigfaltigkeit von Kulten gewollt hat. Nur insoweit besteht eine Schranke, als wer weder eine Vorsehung, noch Unsterblichkeit und Vergeltung nach dem Tode glaubt, tein Amt bekleiden kann; aber auch solche bleiben sonst unangefochten, denn es steht in keines Menschen Macht, zu glauben, was er will; nur durch Ueberzeugung kann man vernünftiger Weise auf solche wirken. Ja sogar tas wird angedeutet, daß die Utopier, die von ihrem Gaste das Christenthum angenommen haben, wohl einen Priester wählen könnten, ohne daß der Papst ihm die Weihen ertheilte. Die Priester sind zwar sehr angesehen, um so mehr, da ihre Zahl gering ist, und von gerichtlichen Strafen eximirt; aber sie haben durchaus teine andere als moralische Gewalt. Lauter Säße der entschiedensten Opposition gegen das Bestehende, die damals sicher ernstlich gemeint waren. Doch hat More zugleich sich verwahrt, daß er nicht unmittelbar die Theorie in die Praxis einführen wolle; an eine radikale Heilung sei nicht zu denken; wer im Rathe eines Fürsten size, dürfe nicht Ideale verwirklichen wollen; er müsse sich begnügen, zu laviren, Schritt für Schritt vorwärts dringen und im Uebrigen sich accommodiren.

Ende 1516 wurde die Utopia zum erstenmal in Löwen gedruckt. Nicht lange nachher folgte More der wiederholten Aufforderung des Königs, in seine Dienste zu treten (1518). Heinrich wollte theils ihn zu mannigfachen Geschäften gebrauchen, theils seine wigige Unterhaltung genießen und seine Liebe zur Wissenschaft raturch

bethätigen. Er genoß des Königs vorzügliche Gunst; bald wurde er Schaßmeister des Exchequer, später Kanzler des Herzogthums Lancaster; im Parlamente von 1523 ward er zum Sprecher des Unterhauses bestellt; wo es eine Festrede zu halten galt, wie bei Anwesenheit fremder Monarchen, wo eine wichtige Staatsverhandlung geführt wurde, da war er thätig. So in Brügge 1520, in More 1525, in Amiens 1527, in Cambray 1529.

Aber nicht blos in diplomatischen Geschäften war er dem König nüßlich, auch seine theologischen Kenntnisse fand er Gelegenheit zu verwenden. Er sah Heinrichs VIII. Schrift über die sieben Sakramente durch freilich mit der Warnung, der König sollte dem Papst nicht zu viel Macht einräumen, es möchte ihn später gereuen, und schrieb dann selbst eine Responsio ad convicia Lutheri unter dem Namen Guilielmus Rosseus, die wenigstens hinsichtlich der Derbheit dem Gegner nichts nachzab (1523). Sein Hauptwerk aber in dieser Richtung ist sein Dyalogue (1529), eine ausführliche Vertheidigung des alten Kirchenglaubens in englischer Sprache, worin er insbesondere auch die Todesstrafe gegen die Kezer vertheidigt. Kleinere Schriften bekämpften einzelne Traktate der ersten Träger der neuen Lehre in England, eines Tindal, Frith u. A. Inzwischen hatte des Königs Scheidung von Katharina schon längere Zeit den Hof und rie Staatsmänner beschäftigt. More hielt möglichst zurück; wenn ihn der König um seine Ansicht fragte, entschuldigte er sich, er traue aus Mangel an theologischer Gelehrsamkeit sich kein eigenes Urtheil zu; er gab jedoch zu verstehen, daß er eine zweite Ehe für unrecht halte. Um so unerklärlicher, daß nach Wolsey's Sturz 1529 der König ihm das große Siegel übergab, und daß More es annahm (25. Dkt.) und damit in Fin Kabinet mit Anna Boleyns Verwandten trat. Als Lordkanzler legte er dann die Gutachten der Universitäten dem Parlamente vor; alle Welt müsse sehen, daß der König nur zur Entlastung seines Gewissens und zur Feststellung der Thron folge den Handel unternommen habe. So förderte er amtlich die Scheidung, während er dem Könige gegenüber auf seiner Weigerung beharrte, dieselbe als rechtmäßig anzuerkennen; so daß Heinrich sich endlich dazu verstand, aus Schonung seines Gewissens sich More's nur für andere Geschäfte zu bedienen, und die Scheidung burch Cromwell weiter verfolgen ließ. Als der Riß mit dem Papste unheilbar wurde, legte More 16. Mai 1532 unter dem Vorwand eines Bruftleidens seine Stelle nieder und zog sich in seine Wohnung nach Chalsea zurück. Der König verlor ihn ungern und entließ ihn in Gnaden. Seine kurze Amtsführung hat hauptsächlich deshalb Bedeutung, weil er der erste Laie war, der das große Siegel führte, der erste Schritt der Emancipation des Staates von der Kirche. Sonst hat er wenig gethan; nur das haben ihm die englischen Protestanten nachgesagt, caß er der Strenge der Gesetze gegen die Keßer nicht blos vollen Lauf ließ, sondern sich im Eifer selbst Grausamkeiten erlaubte. Mag auch Manches übertrieben sein, so steht doch so viel fest, daß die Hinrichtungen von Keßern wieder häufiger wurden, und daß er an ihrer Verurtheilung thätigen Antheil nahm. Er selbst be= fennt in seiner selbstverfaßten Grabschrift: furibus, homicidis hæreticisque molestus, und äußert mehrfach seinen Haß gegen sie als Feinde aller Ordnung; denn wer den Papst angreift, ist auch ein Gegner der Könige. Diese Auffassung erklärt auch einigermaßen seinen Abfall von den milden Grundsäßen der Utopia.

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Zwei Jahre lebte er in Ruhe mit einer Apologie seiner Amtsthätigkeit und theologischen Schriften beschäftigt. Da ward er plöglich in einen Hochverrathsproceß verwickelt. Die Nonne von Kent, eine Somnambüle, hatte der Partei der geschiedenen Königin als Organ gedient, um Weissägungen wider den König und Anna

unter das Volk zu bringen; und More hatte mit ihr verkehrt. So ward er der Verheimlichung des Verraths angeklagt (Febr. 1534). Seine Vertheidigung war leicht; er hatte sie besucht, ihr einen Doppeltukaten geschenkt, daß sie für ihn bete, und sie vor Einmischung in politische Dinge gewarnt. So genügte eine Vitte an den König, um seinen Namen aus der Anklagebill zu streichen. Mit ihm war der 80jährige Bischof Fischer von Rochester angeklagt; dieser wurde, weil er sich nicht entschuldigen wollte, verurtheilt, dem Urtheil übrigens keine Folge gegeben.

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Von da an find More und Fischer Leidensgefährten; und es scheint, daß hauptsächlich Anna's Haß sie verfolgte. Im April 1534 wurde More aufgefordert, die Successionsafte zu beschwören d. h. zu beschwören, daß des Königs erste Ehe ungültig, die zweite legitim und Anna's Nachkommenschaft successionsberechtigt sei. Den letteren Punkt erbot er sich zu beschwören, denn die Successionsordnung könne das Parlament ändern; aber die Rechtmäßigkeit der Scheidung wollte er nicht anerkennen. Dieselbe Erklärung gab Fischer ab. Nach kurzer Berathung, ob man sich nicht mit der halben Zustimmung begnügen wollte, wurde gegen sie entschieden; und so wie die Sachen standen nach der päpstlichen Exkommunikation und der Entdeckung von Verbindungen zu Gunsten Katharina's, im Lande selbst, konnte die Regierung keinen Zweifel an der Rechtmäßigkeit der königlichen Ehe gelten lassen, ohne die Successionsakte selbst illusorisch zu machen. So fanden die Strafbestimmungen der Akte für Verweigerung des Eids, Gefängniß und Vermögenseinziehung, ihre Anwendung; More und Fischer wanderten in den Tower, wo sie übrigens möglichste Freiheit genossen, die Vermögenseinziehung unterblieb: More war der Verkehr mit den Seinigen gestattet; er beschäftigte sich mit ascetischen Schriften; sein leßtes Werk war eine Zusammenstellung der Leidensgeschichte Christi. November 1534 erschien die Parlamentsakte, welche Heinrich VIII. als Haupt der Kirche von England anzuerkennen befahl, dem König das Recht gab, Jeden den Supremat beschwören zu lassen, und Weigerung des Eids für Hochverrath erklärte. Doch blieben More und Fischer unangefochten im Tower; erst im Mai 1536 ohne Zweifel, weil Fischer durch Korrespondenzen sich kompromittirt hatte, erschien eine königliche Kommission im Tower, ihnen den Eid abzunehmen. Sie verweigerten ihn. Doch besann man sich, ihnen den Proceß zu machen, bis der Papst selbst durch die Ernennung Fischers zum Kardinal ihr Ende herbeiführte. Zuerst wurde Fischer verurtheilt; am 1. Juli erschien More ver der Hohen Kommission". Nach einer ziemlich formlosen Verhandlung wurde er verurtheilt und am 6. Juli enthauptet. In der ganzen Zeit hatte ihn seine Ruhe und Festigkeit so wenig als seine heitere Laune verlassen; noch in den lezten Augenblicken auf dem Schaffot vermochte er zu scherzen; er strich seinen Bart bei Seite: es wäre schade, wenn der durchschnitten würde; der hat keinen Verrath begangen."

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Sein Tod machte in ganz Europa ungeheures Aufsehen; er erschien als Märtyrer des wahren Glaubens, als Opfer der tyrannischen Gewaltthätigkeit des Königs. Es war ein Zeichen der unnatürlichen Spannung aller Verhältnisse, daß eine bloße Ansicht durch ein Gesetz als Hochverrath bezeichnet werden konnte. Daß More fich dadurch nicht schrecken ließ, sondern einem unverdienten Schicksal gegenüber sich edel und fest gezeigt hat, gewinnt für ihn. Doch dürfen darüber seine Mängel und Schwächen nicht übersehen werden. So großes Ansehen er wegen seiner Talente genoß, so war sein Gesichtskreis doch im Grunde eng und sein Geist unselbständig; er wurde von den Widersprüchen der Zeit erfaßt, ohne sie überwinden zu können. Ein Vertheidiger der Toleranz und ein Verfolger der Ketzer;

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