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männer entspricht. Jeder Sultan seit Abdul Hamid I. 1) denkt eigentlich an nichts anderes mehr, als «après moi le déluge», eine Politik, die durch die Eifersucht der europäischen Mächte, welche sich über ein gemeinsames Handeln im grösseren Styl nicht leicht verständigen können, und durch den Fatalismus der Bevölkerung, der alles Geschehende als «unabänderliches Schicksal hinnimmt, begünstigt wird.

Gegenwärtig befindet sich jedoch das Reich dessenungeachtet in einem Uebergangsstadium allerwichtigster Natur. Nach vorherrschender Ansicht hat der dermalige Sultan die Anlehnung an England, das stets nur Vortheile (wie seiner Zeit die Abtretung Cyperns) beansprucht und Aegypten dauernd behalten will, dafür aber möglichst wenig leisten und auch möglichst wenig in Bezug auf seine anderweitige komplizirte Politik sich binden möchte, aufgegeben und mit seinem Todfeind, Russland, einen geheimen Allianzvertrag abgeschlossen, dessen erste Frucht, die Anerkennung eines russischen Vasallenfürsten in Bulgarien, bereits offen vorliegt, und dessen zweite die Zulassung der Durchfahrt russischer Kriegsschiffe durch den Bosporus und die Dardanellen sein wird3).

1) Derselbe regierte von 1744 bis 1789 und ist bekannt durch den unglücklichen Frieden von Kutschuk-Kainardschi vom 21. Juli 1744. Der jetzige Sultan Abdul Hamid II. ist der 31. Sultan, der seit der Eroberung von Konstantinopel, 1453, daselbst residirt.

*) Das Bestehen eines solchen Vertrages wurde anfänglich von den englischen Blättern bezweifelt, später glaubte die «Times», es sei wenigstens ein Abkommen vorhanden, «wonach die Türkei verpflichtet sei, in ihren äusseren Beziehungen die Rathschläge, die von St. Petersburg kommen, zu befolgen». Das nennt man in der gewöhnlichen staatsrechtlichen Sprache einen Protektoratsvertrag und damit hört die Selbständigkeit eines Staates auf.

Vielleicht ist es eine ähnliche nicht förmlich in Vertragsform abgefasste Allianz, wie die jetzt viel besprochene russisch - französische «amitié inaltérable». Auf die Form kommt es dabei nicht an. Vor Kurzem wurde

Später folgt vielleicht ein Angriff auf die englische Stellung in Aegypten durch Frankreich, und zuletzt bei einer guten Gelegenheit die Besetzung von Konstantinopel durch die Russen unter dem Titel des «Schutzes», welcher die Türken allein weder zu Land noch zu See genügenden Widerstand leisten können. Die Türkei befolgt dermalen die Politik des ehemaligen polnischen Reiches, sich mit dem gefährlichsten ihrer Feinde zu vertragen, da die Andern ihr doch nicht helfen wollen, auf die Gefahr hin, schliesslich von ihm verschlungen zu werden. Nicht ohne Krieg; denn dann werden, ähnlich wie dies bei den drei Theilungen Polens der Fall war, sich die Andern noch aufraffen, um wenigstens nicht leer auszugehen, und es ist auch nicht wahrscheinlich, dass der mohammedanische Fanatismus das alles ganz ohne Weiteres geschehen lässt. An diesem Punkt der Entwicklung befindet sich die Frage dermalen.

Die orientalische Frage ist also eigentlich eine grossartige Liquidation, welche im Prinzip bereits entschieden ist 1), aber in Bezug auf die in dem «Nord», einem Organ des russischen «auswärtigen Amtes» zugegeben, dass die russische Pontusflotte in der Nähe des Bosporus stehe. Der betreffende sehr durchsichtige Passus lautete: «Die russische Flotte hat durchaus keine kriegerische Aufgabe gegen den Sultan und sie hat sich dem Bosporus nur genähert, um die Ordnung und den Frieden zu sichern wenn sie von irgend wem bedroht werden sollten.»>

1) Die Absetzung des jetzt noch lebenden Vorgängers des dermaligen Sultans, Mehemed Murad, war eigentlich bereits ein Akt der förmlichen Oberhoheit der europäischen Mächte über das türkische Reich, die besteht, sobald und so oft sich dieselben über solche Massregeln einigen können. Doch sind fast alle bisherigen Emancipationen türkischer Gebietstheile, welche in diesem Jahrhundert erfolgten, der griechische Aufstand, die Vereinigung der Moldau und Walachei, die Berufung des Prinzen von Hohenzollern dahin, die Aufstände in Serbien, Bosnien, Kreta, die zuletzt überall zu einer Befreiung führten, auch sogar die Vereinigung von Bulgarien und Ostrumelien anfänglich gegen den Willen dieser Mächte vor sich gegangen, ein gefährliches Beispiel für alle nach dem gleichen Ziele strebenden Bevölkerungen.

Ausführung seit einem halben Jahrhundert beständig mehr oder weniger auf der Tagesordnung steht und den Anlass zu einem allgemeinen Krieg am allerehesten von allen Fragen» geben wird, die gegenwärtig vorhanden sind. Der delabrirte Zustand der Türkei, welcher zwar schon fast wunderbar lange gedauert hat, aber nicht ebenso lange mehr dauern kann; der unversöhnbare Gegensatz zwischen Deutschland und Frankreich, welches letztere stets auf die günstige Konjunktur für einen Revanchekrieg lauert; die englische Position in Aegypten, die England nicht mehr aufgeben kann, und die fortan aggressive Stellung Russlands in Bulgarien, die Oesterreich bedroht, und zu ähnlichen Massnahmen in andern Gränzgebieten auffordert, das sind, neben dem natürlichen Bedürfnisse einzelner Theile des türkischen Staats einen andern Anschluss zu suchen '), die una bänderlichen Verhältnisse, die, trotz allem Friedensbedürfniss der Welt, einen europäischen Krieg früher oder später zur Nothwendigkeit machen 2).

1) Das beginnt stets ganz gleich zuerst mit Aufständen und Forderungen einer besseren Verwaltung, als die gewöhnliche türkische, denen die europäischen Mächte so lange als möglich widerstreben, selbst wenn sie sie oft daneben im Stillen begünstigen. Dann kommt das Stadium der «christlichen Gouverneure» und des «Rückziehens der türkischen Besatzungen», sodann der Uebergang in ein blosses Vasallenverhältniss und zuletzt die Ablösung. Es ist begreiflich, dass die Türkei so lange als möglich den «Anfängen wehren» möchte, da sie solche Erfahrungen schon in Griechenland, Rumänien, Serbien, Montenegro, Bosnien, Bulgarien, Aegypten und neuestens Kreta gemacht hat.

2) In weiterer Entfernung kommen jetzt noch hinzu das russische Protektorat über China und das vielleicht beabsichtigte über Abyssinien, Dinge, welche bei der unbedingten Hingebung Frankreichs an die Politik Russlands diesem Staate augenblicklich ein ungeheures Uebergewicht in der Gesammtpolitik der Welt verschaffen, bis er durch seine eigene Ausdehnung und die Unmöglichkeit sowohl einer autokratischen Regierung über ein so ausgedehntes Reich, wie einer modernen Verfassung für dasselbe, sich wieder auflöst.

II.

Die staatsrechtliche Organisation der Türkei, wie sie namentlich seit 1855, nach Abschluss des sogenannten Krimkrieges, geschaffen wurde, ist, kurz gesagt, die folgende:

Konstantinopel nebst dem nächsten Gebiete steht unter direkter Verwaltung der Staatsregierung selbst, ähnlich wie dies bei der alten «Stadt und Republik Bern> der Fall war und jetzt bei der Stadt Washington der Fall ist; das übrige unmittelbar beherrschte Gebiet zerfällt in Provinzen, sogenannte Vilajets, denen ein Pascha, oder Vali, als Statthalter, mit einer Art von Verwaltungsrath, Medschlis genannt (seit Abd ul Medschid), an der Seite vorsteht. Das Haupt der absoluten Monarchie ist der Sultan oder Padischah, der stets das älteste Mitglied der im kaiserlichen Harem geborenen Prinzen des regierenden Hauses, der Familie Osman, ist, also keineswegs immer der älteste Sohn, oder überhaupt der Sohn des vorangehenden Regenten. Die Frauen der Sultane müssen nach jetzt geltendem Gewohnheitsrecht gekaufte Sklavinnen sein und haben unter sich verschiedene Rangabstufungen, die jedoch für die Kinder und ihre staatsrechtliche Successionsfähigkeit ausser Betracht fallen. Die Regierung heisst, von einem Verwaltungsgebäude hergenommen, die «Hohe Pforte», «la Sublime Porte». Sie ist absolut monarchisch, der Sultan ernennt alle Beamten und ist bloss in den als religiös betrachteten Massnahmen. an die Rathschläge des Gross-Mufti, oder Scheich ül Islam gebunden. Die Regierungsgeschäfte leiten eine Art von Reichskanzler, der Gross-Vezier, und mehrere Minister, unter denen der eben genannte Gross-Mufti, als Kultusminister, der Seraskier, als Kriegsminister, der KapudanPascha, als Grossadmiral und der Direktor des Wakuf (der Moscheengüter) die wichtigsten sind. Mehrere Minister haben Berathungskollegien zur Seite, und es besteht auch eine Art von kaiserlichem Staatsrath (Divan), aber keinerlei Volksvertretung.

Die christliche Unterthanenschaft der Türkei war ursprünglich, wie schon gesagt, rechtlos, da der Koran nur ein mohammedanisches «Volk» kennt. Seit 1856 ist sie theoretisch gleichberechtigt geworden; sie ist in ihren religiösen Angelegenheiten vollkommen unabhängig unter eigenen Vorstehern, soweit sie griechischer Konfession ist, wesentlich unter dem Patriarchen von Konstantinopel. Doch ist das nicht ausschliessend der Fall, und gerade gegenwärtig geht das Bestreben Russlands dahin, das sogenannte bulgarische Schisma auf seine besondere Art zu beseitigen, dass heisst die Griechen Bulgariens unter die kirchliche Oberhoheit des Kaisers von Russland und des heiligen Synod zu bringen, womit auch die kirchliche Herrschaft Russlands daselbst vollkommen gesichert wäre1).

In ihren Justizangelegenheiten sind die Unterthanen der europäischen Mächte, die in der Türkei sich aufhalten, seit längster Zeit, besonders jedoch seit 1740, der türkischen Justizhoheit enthoben und unter die Konsular- und Gesandtschaftsgerichtsbarkeit ihrer Mächte gestellt. Doch betrifft das nur die Fremden, nicht die türkischen Unterthanen christlicher Konfession, über die bloss zeitweise, oder lokal eine Art von «Schutzrecht» Seitens einzelner europäischer Mächte beansprucht worden ist.

1) Das sogenannte «bulgarische Schisma» entstand dadurch, dass die bulgarische Kirche, welche ursprünglich eine Nationalkirche mit altslavischer Kirchensprache und einem bulgarischen Primas gewesen, seit der türkischen Herrschaft aber immer mehr unter die Regierung des Patriarchen von Konstantinopel und von ihm eingesetzter griechischer Bischöfe gelangt war, sich, dem Beispiele Serbiens und Rumäniens folgend, dieser Herrschaft zu entziehen suchte. Theilweise geschah dies durch Wiederanschluss an Rom, unter besonderen Bedingungen, wie namentlich Beibehaltung der Priesterehe und der Kirchensprache. Es sind dies die sogenannten «unirten Griechen», wie sie auch in Polen und Ungarn bestehen, die die päpstliche Oberhoheit anerkennen, und es bestand eine Zeitlang die Hoffnung der römischen Kirchengewalt, die griechische Kirche auf diesem Wege allmählig wieder mit der lateinischen zu vereinigen, von der sie seit 1054 getrennt ist. 1870 aber errichtete der Sultan auf Betreiben Russlands und Frankreichs durch

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