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I.

Unter der orientalischen Frage 1) versteht man die Frage über die Aufrechterhaltung des Rechtsbestandes der türkischen Herrschaft, namentlich in Europa, beziehungsweise die Herbeiführung einer Theilung oder Auflösung derselben in verschiedene Staatsbestandtheile, die nicht ohne Krieg vor sich gehen zu können den Anschein hat.

Das türkische Reich, welches in drei Welttheilen, Europa, Asien und Afrika, an die Stelle des oströmischen Kaiserthums trat und zeitweise ein sehr mächtiger, immer aber ein nicht ganz civilisirter und nicht ganz in die civilisirte Welt passender Staat war, befindet sich seit ungefähr einem Jahrhundert in einem Zustande unheilbarer Decadenz, der seit 1878 in eine eigentliche Auflösung übergegangen ist, welche nur durch die Eifersucht der vorhandenen Erbprätendenten und die Schwierigkeit überhaupt einen richtigen Ersatz an seiner Stelle zu schaffen, verzögert, aber nicht mehr ganz aufgehalten | werden kann. Die wissenswerthesten statistischen und geschichtlichen Daten darüber, namentlich für die neuere Zeit, sind kurz folgende:

Die Türkei ist ein ganz mittelalterliches Länderconglomerat, das aus unmittelbar regierten Ländern, selbstständigen, aber tributpflichtigen Vasallenstaaten, nicht tributpflichtigen Vasallen und endlich noch aus einer

1) Dieser Aufsatz war ursprünglich ein Vortrag in dem Kaufmännischen Verein von Bern, im Februar dieses Jahres.

Anzahl von Gebieten besteht, welche nur in einem theoretischen, oder religiösen Zugehörigkeitsverhältnisse stehen. In neuerer Zeit erst sind als eine 5. und 6. Klasse noch Gebiete hinzugekommen, die ausschliesslich in der Verwaltung anderer civilisirter Mächte sich befinden, über die der türkische Sultan aber noch eine nominelle Oberhoheit besitzt, und solche, in denen eine Art von Selbstverwaltung unter christlichen Statthaltern bestehen soll, welche nach bisherigen Erfahrungen die Vorbereitung für eine Ablösung von dem türkischen Staatsverbande bildet.

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Die ersteren sind, um damit zu beginnen, jetzt Bosnien und die Herzegowina, die unter Oesterreichs sogenannter ewiger Verwaltung stehen 1), Cypern, das in englischer Verwaltung steht, Tunis, das Frankreich faktisch als Protektoratsgebiet besitzt, während es rechtlich ein Vasallenstaat der Türkei ist, Aegypten, das ebenfalls ein türkischer Vasallenstaat, aber seit 1882 von England militärisch besetzt ist und dadurch von demselben auf unbestimmte Dauer beherrscht wird, wobei noch daneben seit der Regierung Ismail Pascha's des Grossvaters des jetzigen Chedives eine Art von gemeinsamer Aufsicht der europäischen Grossstaaten über die Finanzverwaltung und die Verzinsung der Staatsschulden, und seit 1888 eine gemeinsame Oberaufsicht über den Suezkanal besteht. So, dass Aegypten jetzt gleichzeitig ein Erbfürstenthum der Familie Mehemed Ali's nach dem europäischen Recht der Primogenitur (das in der Türkei sonst nicht gilt), ein türkischer tributpflichtiger Vasallenstaat, ein englisches Protektorat, nahezu eine englische Kolonie, und ein europäischer Schutzstaat unter gemeinsamer Oberaufsicht der grösseren Mächte ist, eine

1) Die Verwaltung ist eine Art von Diktatur, welche durch den gemeinsamen Finanzminister der beiden Reichshälften der österreichisch-ungarischen Monarchie ausgeübt wird.

der seltsamsten staatsrechtlichen Kombinationen, die es jemals gegeben hat und die sich durch die Wiedererwerbung des Sudans noch auf eine ganz unbestimmbare Dauer verlängern wird. Im Ganzen Im Ganzen genommen aber ist Aegypten seit längerer Zeit schon ein der Civilisation näher gerücktes Staatswesen, als die Türkei selber.

Eine Selbstverwaltung (eine Art von Konstitutionalität) unter christlichen Gouverneuren besteht im Libanon schon seit 1860, als Rückstand der damaligen französischen Besetzung Syriens und in Kreta durch den Berliner Vertrag von 1878. Die türkische Regierung schloss in Folge dessen mit den Kretensern darüber im gleichen Jahre noch den Vertrag von Haleppa, der aber später einseitig und widerrechtlich aufgehoben wurde 1). Seit dieser Zeit bestand dort eine Art von permanentem Aufstand mit einem Revolutionscomité, das sich «Comité zur Erzielung von Reformen» nannte, welcher in diesem Jahre zuerst zu der Einsetzung eines

1) Die jetzt viel genannte Konvention von Haleppa, welche ihren Namen von einem Orte in der Nähe von Cane a führt, datirt vom 15. Oktober 1878 und wurde von Mukhtar Pascha mit den Mitgliedern der kretensischen Junta abgeschlossen. In dieser Konferenz formulirten die Kretenser ihre Forderungen in folgenden neun Punkten:

1. Annahme der im Jahre 1876 beantragten Modifikationen des organischen Statuts von Kreta. 2. Ernennung eines christlichen Valis der Insel Seitens der Pforte und Bestätigung desselben durch die europäischen Grossmächte auf fünf Jahre, sowie Wiedererwählung desselben auf weitere fünf Jahre, falls er die Stimmenmehrheit der Einwohner für sich hat. 3. Angehörigkeit der Unterstatthalter zu demjenigen Kultus, zu welchem sich die Mehrzahl der von ihnen zu regierenden Distriktsbewohner bekennt. 4. Vervollständigung der bestehenden Gesetze durch die französischen Gesetzbücher und Schutz der Gerichte gegen die Befehle der Pforte. 5. Beschränkung des Militärs auf die befestigten Plätze. 6. Ueberweisung der Hälfte der Netto - Einnahmen der Insel an die Staatskasse und Verwendung der anderen Hälfte für öffentliche Arbeiten auf der Insel. 7. Ernennung von Friedensrichtern. 8. Obligatorische Kenntniss der griechischen Sprache bei allen Beamten. 9. Anstellung von Christen im Zolldienst.

christlichen Gouverneurs, Georg Berowitsch, sodann zu einem förmlichen Interventionsgesuch der Türkei bei den europäischen Mächten vom 23. August und in allerneuester Zeit zu einer thatsächlichen Anerkennung einer kretensischen Selbständigkeit, vorläufig auf 5 Jahre führte, welche aber auch nicht das letzte Wort in dieser Sache sein wird. Ueber Kreta sagte Lord Palmerston schon 1830, es werde niemals zur Ruhe kommen, bis es schliesslich mit Griechenland vereinigt sei.

Nicht tributpflichtige Vasallen sind die Beys von Tunis und Tripolis (früher auch Algier) wovon jedoch der erstere, wie schon gesagt, durch den sogenannten Vertrag von Bardo, gegen den die Türken vergeblich protestirt hatten, französischer Unterthan geworden ist.

Tributpflichtige Vasallen sind: die Insel Samos, die eigentlich einen christlichen Fürsten hat 1), der Libanon und das Fürstenthum Bulgarien, seit 1885 thatsächlich vereinigt mit dem ehemaligen General

Ueber diese Punkte wurde vom 16. September bis zum 15. Oktober 1878 zwischen Mukhtar Pascha und den christlichen Deputirten verhandelt, bis schliesslich eine Vereinbarung zu Stande kam, die aber nie ausgeführt wurde. Die kretensische Nationalversammlung sollte nach der Konvention von Haleppa aus 80 Deputirten, 49 Christen und 31 Mohammedanern, sich zusammensetzen. Diese Zahl wurde später auf 57: 35 Christen und 22 Mohammedaner, reduzirt. In Folge von Reklamationen der Kretenser wurde sie nach dem vorletzten Aufstande wieder um 8 erhöht und sie beträgt gegenwärtig 65: 40 Christen und 25 Mohammedaner.

1) Die Insel Samos betheiligte sich s. Z. an dem griechischen Freiheitskampfe, wurde aber durch das Londoner Protokoll von 1830 bei der Türkei belassen, nur erhielten die Samioten das Recht, von einem christlichen Staathalter regiert zu werden, welcher den Titel «Fürst» führt, und ebeuso haben sie eine Art von Volksvertretung von 36 Abgeordneten für ihre inneren Angelegenheiten. Dagegen hält die Türkei eine Besatzung auf der Insel. Fürst von Samos war seit 1894 Georg Berowitsch, ein Albanese aus Skodra, der nun wieder nach Kreta versetzt worden ist, wo er schon früher als Untergouverneur fungirt hatte.

Gouvernement von Ostrumelien, ein Verhältniss, das erst in diesem Jahre vom Sultan unter Zustimmung der Mächte des Berliner Vertrages definitiv anerkannt worden ist, aber gleichzeitig nun eine Rechtstellung dieses Landes zu Russland mit sich brachte, wie sie annähernd ähnlich in Tunis und Aegypten besteht. Es ist jetzt ein russisches Protektorat unter einem Erbstatthalter, mit scheinbarer Oberhoheit der Türkei und einem Tribut, der, wenn er nicht bezahlt wird, keine Exekution finden und wahrscheinlich früher oder später von Russland abgelöst werden wird.

Bloss nominell gehören zur Türkei: Kurdistan, Mesopotamien, die syrische Wüste, Nord- und Centralarabien mit Ausnahme der beiden h. Städte Mecca und Medina, die noch etwas enger mit ihr verbunden sind. Die dortigen Bevölkerungen, zum Theil völlige Nomaden, leben unter ihren eigenen patriarchalischen Stammfürsten, die nur etwa, wie der Scheikh des Nedschd in Arabien, zeitweise ein «Geschenk» (Pferde) an den Sultan zu schicken verpflichtet sind, ähnlich wie zum Beispiel bei uns die Urner noch lange Zeit eine mehrpfündige Wachskerze für das Livinenthal an den Dom von Mailand zu entrichten hatten. Die kurdischen Stämme werden als eine Art unregelmässiger und sehr undisziplinirter Kavallerie von der Türkei verwendet, ähnlich den früheren sogenannten Baschi-Bozuks.

Die Gestade und Häfen des rothen Meeres sind jetzt theilweise auch bereits von England, Frankreich und Italien besetzt worden, ohne die Türkei ernstlich darum zu befragen, die dort vorher eine nominelle Gebietsherrschaft besass. Der jetzige Feldzug der Engländer im Sudan wird diese Ablösung definitiv befestigen.

In Armenien wird, wie in Kreta, eine christliche Verwaltung unter einer Oberaufsicht der europäischen

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