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in Chios können wir nichts sagen, weder wie lange sie bestand, noch wie zahlreich sie zu irgend einer Zeit besucht wurde. Aber die Erfindung der Bastbereitung, und die Verbreitung von Texten zur Lektüre wird ebenso auf den Verfall des Choristen-Instituts gewirkt haben, wie nachmals der Buchdruck auf den Verfall der Schreibkunst.

Nachdem wir so den Faden der Culturentwicklung seit der Einwanderung aus Attika her, die Entstehung der grossen Epen, die Gründung eines Bildungsinstituts für zukünftige Rhapsoden und die aus der Anregung hervorgegangene eigene dichterische Thätigkeit angedeutet haben, bleibt uns noch eine wichtige Bemerkung übrig. Setzen wir den Inhalt der Epen mit allen ihren Ungereimtheiten über die Götter als bekannt voraus. Es ist ebenso wichtig, darauf aufmerksam zu machen, dass der ursprüngliche Glaube der Jonier durch den Einfluss der grossen Epen verwischt und dann verdrängt wurde, der Glaube an den Lichtgott (Zeus), wie er sich oben erklärt hatte. Es ist eine Frage, ob er sich in jener Reinheit hätte erhalten können. Auch darum war gerade die Zusammenfügung der grossen Epen ein Verhängniss für die religiöse Entwicklung der Hellenen geworden. In ihrer Getrenntheit wären die einzelnen Rhapsodien ohne jenen auctoritativen Einfluss geblieben. Aber zu einem Ganzen gefügt mussten sie das Ansehen eines Religionsbuchs erlangen. Ein abenteuerlicher Polytheismus drang in die Gemüther ein. Die einsichtsvollsten Männer mussten damit rechnen. Er wurde eine geschichtliche Macht.

Bei Verfolgung dieses Gegenstandes würden wir uns in die Mythologie und Religionsgeschichte verlieren, was nicht der Zweck, dieses Capitels ist. Aber es sei noch erinnert, dass in dieser Hinsicht die attischen Tragiker nachmals insofern einen besseren Gebrauch von ihrer Muse machten, als sie gegenüber jenen Mährchen auf sittliche Mächte hinwiesen.

Vierter Abschnitt.

Von den übrigen Stämmen.

Nach der oben gegebenen Darstellung waren die übrigen Jonier, die sich westwärts gewendet hatten, hauptsächlich in Attika, Aegialea und Aegina zu finden. Wann hatte der Untergang der Urheimath der Jonier stattgefunden? Diese Frage führt mitten in das Völkergeschiebe hinein, insofern wir nicht umhin können, dabei den

Zeitpunkt der Dorischen Invasion anzudeuten. Dieser Zeitpunkt ist nicht so schwer zu ermitteln. Man muss nur Eines zugeben können, nämlich dass das Heldengeschlecht, welches sich an die Spitze der Dorier stellte, sich durch die Nachricht, dass sämmtliche achäische Könige einen Kriegszug über Meer angetreten hätten, wie durch einen Wink des Schicksals zum Aufbruch aufgefordert fühlte. Nur Eroberung konnte der Beweggrund sein, ihre alte Heimath am Pindos zu verlassen. Sie fanden aber Aufenthalt; denn der Meeresarm trennte sie vom Achäischen Lande (yatis) Gewöhnung ans Meer und Versuche im Schiffbau war vorerst die Aufgabe, welche Söhne und Enkel beschäftigte. Als dann die vierte Generation (μetà toítov tòv zagπóν, sollte ein Orakel den Urvätern gesagt haben) Fuss auf peloponnesischem Boden fassten, fanden sie Jonier vor, die Herrn im Lande waren (1104). Sie waren genöthigt, deren Macht, da sie bedeutenden Rückhalt (in Attika) hatte, zu respectiren, und vertheilten sich über die Halbinsel, wo wir in historischer Zeit die Herrschaft bei ihren Nachkommen finden. Die seitherigen Herrscher in Lakonien, die es verschmähten, mit den siegreichen Eindringlingen sich zu benehmen, wichen einem Frieden aus, und warfen sich ihrerseits auf die vorhin genannten Jonier zwischen dem Arkadischen Nordrandgebirge und dem Meerarm. Diese gelang es ihnen zu überwältigen. Aber Ruhm hatten sie so wenig davon, wie die Dorer von dem Siege über sie. Denn die Jonier wichen vor ihnen nach Attika zurück. Nachdem die Dorer sich ihrer Herrschaft auch in Argos über die Achäer versichert hatten, sollte es gegen die attischen Jonier gehen. Aber da wurde ihrem Eroberungsdrange ein Ziel gesteckt (1068).

Das Einsinken des Ursitzes der Jonier gehört einer Zeit an, die dem Kriegszuge der Achäer gegen Ilios vorausgegangen war. 1) Die Thaten, welche letzere im Kampfe gegen die Troer verrichtet hatten, besangen nach ihren Erzählungen später die Jonier. Jenes Naturereigniss muss zeitlich gleichzeitig mit dem Einsinken des Territoriums erfolgt sein, woran der Name Kopaissee (Kwлαïç) erinnerte.

Nach der Rückwanderung der Jonier aus dem eine Zeitlang nach ihnen bekannten Küstenstrich gab es Achäer und Dorer im

1) Dadurch waren die semitischen, von Kreta (Minos) und Karien ausgeführten Niederlassungen (cfr. Thucydid. I, 4) zu Grunde gegangen. Zu Minos vgl. Duncker, Geschichte d. Alterthums I S. 302 (2. Aufl.).

Peloponnes, freie Achäer in Achaia, und Achäer unter der Herrschaft dorischer Geschlechter in den das Hochland Arkadien umringenden Küstenlandschaften, Lakonien, Messenien und Argolis, Auch Arkadien hatte achäische Bevölkerung, verfiel aber nicht den Doriern. 1)

Die nachdorische Zeit kannte keinen gemeinsamen Namen für den Peloponnes mehr, wie die vorhergehenden. 2) Von den Einzelländern wird später Lakonien unsere Aufmerksamkeit beschäftigen. Nördlich davon auf dem Boden Mittelgriechenlands wird Attika diesen Vorrang beanspruchen. Der Name Hellas, den es in der Geschichte führt, stammte von einer Stadt im N., Hellas, her. 3) Wie es mit dieser Uebertragung gekommen, das liegt im Dunkeln.

Die landeinwärts wohnenden Hellenen Böotiens, u. s. f. gehörten einem vierten noch nicht genannten Stamme an. Die Nachforschung hierüber wird uns nöthigen, auch die westliche Küstenlandschaft, Elis, die gleichfalls unter die Herrschaft der Dorier zu stehen kam, in diesem Zusammenhange namhaft zu machen.

Wir nehmen unseren Ausgang von dem Namen Argos. Die homerischen Epen kennen zwei Beispiele davon, das achäische im Peloponnes, und das pelasgische in Thessalien. Thessalien, dessen Name dort nicht vorkommt, war von Aeoliern bewohnt, so dass hieraus gefolgert werden muss, dass die Ausdrücke äolisch und pelasgisch in Verwandtschaft zu einander stehen. Wenn das thessalische Argos pelasgisch genannt wird, so ist damit die thessalische Ebene am Peneios gemeint. Als Pelasger werden aber auch die Kaukonen in Elis, die Thesproter bei Dodona, die Kaukonen in Bithynien, und die Leleger gegenüber von Lesbos bezeichnet. Mithin werden auch die Taphier an der Westküste von Akarnanien, weil sie lelegischen Ursprungs waren, Pelasger gewesen sein. Dazu kommen noch die Böotier. Ziehen wir das Resultat hieraus, so verhalten sich die Ausdrücke pelasgisch und äolisch so zu einander. Aeolisch war die jüngere, den Stammesnamen der Achäer, Jonier und Dorer ebenbürtige Bezeichnung, pelasgisch diejenige, welche Alles begriff, was in der

1) Wie Herodos II, 171 bezeugt. Die Arkader hielten daher darauf, Autochthonen zu sein, vgl. Xenophon Hellen. VII, 1. 23.

2) Zwar gibt Thucydides I, 3 an, dass Homer die Gesammtheit in seinen Gesängen bald Danaer, bald Argiver oder Achäer nennt. Es scheint ihm dabei Ilias III, 75 (,,Argos and Achaiis") entgangen zu sein. Zuerst nennt Homer hier ehrenhalber das Land zuerst, woher der oberste Führer Agamemnon, und dann das Achäerland. Achäisch war aber Argos (Argolis) nicht minder. Und Jl. II, 683 werden die Bewohner von Phthia zugleich Hellenen und Achäer genannt, also die erste Benennung der zweiten untergeordnet.

3) Thukydides I, 3.

Entwicklung weiter zurück war, mithin der Ausdruck für die ältesten Bewohner. In dem Sinne von etwas ethnographisch Unbestimmbarem in Sitte und Einrichtung auf dem Boden des Pinduslandes, erhielt dieser letzte Ausdruck wissenschaftliche Anerkennung, nach dem Vorgange Herodot's, durch Niebuhr und Otfried Müller. 1) Von dem vierten Namen, den Aeolern, waren also hauptsächlich Elis, Böotien, Thessalien und jenseits des Archipel Lesbos und die gegenüberliegende kleinasiatische Küste bis Smyrna hinab bewohnt.

Culturgeschichtlich nahmen diese die Mitte zwischen Joniern und Dorern ein, aber nicht in den Sinne, als ob sie ein aus diesen Gegensätzen hervorgegangenes drittes Vollkommeneres dargestellt hätten, es müsste denn ihr Verständniss für Alles, was das Leben angenehm macht, dahin gehören. Vielmehr ist damit ihr Hängen am politisch Hergebrachten gemeint, an der Kasteneinrichtung, bei allem Mangel des Sinnes für Zusammenwirken. Bei dieser Charakteranlage entschlugen sie sich der Bestimmung, in der Geschichte neben den Joniern und Dorern eine selbsständige Aufgabe zu verfolgen. 2) Denn nur dieses vermag einem Volk den Anspruch zu geben, bei der Betrachtung des allgemeinen Ganges der Geschichte in erster Reihe berücksichtigt zu werden.

Schlussbemerkung.

Kehren wir zu dem, was die Vorbemerkung gewollt hat, zurück. Wir haben gesehen, wie die arische Vorstellung von dem höchsten Wesen an die Jonier und die Latiner überging, wie aber diese den Ausdruck dafür jonisirten bzw. latinisirten. Wir haben ferner erkannt, dass der Ausdruck Hellenen das Uebergewicht über den Namen Jonier erhielt, und erläutern dies daraus, wie der Name Römer nach und nach das Uebergewicht über die Namen Latiner, Samniter u. s. w. erhielt. Daraus schliessen wir zurück, dass es eine Zeit gab, wo die Stadt der Hellenen (Hellas in Phthiotis oder

1) Schon bei Thucydides I, 3 hatte diese Bezeichnung theoretischen Sinn gehabt 2) Zu dem, was Bernhardy, Grundriss d. gr. Lit. Lit. I (1836) S, 100 bemerkt, lässt sich hinzufügen, dass man auf den Charakter der Stämme aus ihren Göttern schliessen kann. Die äolischen Stämme zog Poseidon an, die Dorer der weissagende und heilende Apollo, die Joner die rathgebende und Weisheit lehrende Athene (Minervam operum atque artificiorum initia tradere bei Cäsar De Bell. Gall. VI, 17). Vgl. Müller, M., Lectures etc. II, 10 (Deutsche Uebers. S. 402).

Südthessalien) Bedeutung vor allen anderen Städten gehabt hatte. Die Urhellenen waren aber die Nachbaren der Urachäer gewesen. Denn ein anderer Bestandtheil des nämlichen Südthessaliens hatte Achaia geheissen. Dieses Achaia war der Ursitz der Achäer gewesen, welche zuerst den Peloponnes unter ihre Gewalt zu bringen gewusst hatten. Beleuchtet man mit dieser Entwicklungsreihe die Frage wegen der Uranfänge der Römer, so wird man versucht, anzunehmen, dass es ein Rom, das von der Sage des Romulus umwoben ist, vor Alba longa gegeben und dass der Sinn der Sage von der Himmelfahrt dieses Heros die Erklärung für den Untergang jenes ältesten, Rom ersetzen sollte. Daraus würde hervorgehen, dass eine zeitliche Analogie mit einander haben 1) das achäische Sparta bzw. Mykenä, sowie das erechtheische Athen 1) und Alba longa, und 2) das dorische Sparta, sowie das melanthische Athen 2) und das bürgerliche Rom, um das historische Rom hiemit zu bezeichnen.

Dem Zeitpunkt, wo die Dorer mit der Eroberung der verwaisten Königsburgen sich in den Besitz der Herrschaft über den achäisch bevölkerten Peloponnes setzten (1104), stand die Abschaffung der erblichen Königsmacht in Attika (1068) sehr nahe. Denn nicht ein halbes Jahrhundert war seit der ersten Usurpation seitens der Dorer verflossen. Für eine Zeit von historischem Charakter wäre es nicht erlaubt, zwei soweit auseinanderliegende separate Vorgänge methodisch neben einander zu stellen. Aber jene Zeit erleidet dabei keinen Abbruch. Trotz einzelner Thatsachen, die licht aus dem Dunkel der Zustände hervortreten, hat sie nämlich ihren Charakter einer abenteuerlichen Tradition noch nicht abgelegt. Die Geschichte ist noch immer erst an gewissen Etappenstellen zu erkennen, und Jahrhunderte müssen wir für die politisch erkennbare Entwicklung ihrem dunkeln Ringen überlassen.

So vergehen fast drei Jahrhunderte, ehe wir in Sparta historisch festen Fuss fassen, sofern uns das Auftreten Lykurgs nöthigt, die ersten Versuche, den verwilderten Zuständen gesetzliche Schranken zu setzen (825, nach Grote). Ueber drei Jahrhunderte attischer Geschichte müssen wir übergehen, wie wenn die Einwohner

1) Homer bezeichnet die Stadt Athen als erechtheisch Odyss. 7. 80.

2) Athen seit der Anerkennung des Melanthos, gewesenen Königs von Elis, den die Invasion des Dorers Oxylos von dort vertrieben. Da er die Herrschaft in Athen erhielt, so ist daraus zu schliessen, dass er Jonier war, und weiterhin, dass auch Elis der Herrschaft der Jonier unterworfen gewesen war.

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