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Das neutrale Gebiet ist daher auch ein Asyl, welches man einzelnen Gliedern und Angehörigen der fremden Kriegsmächte zu öffnen und zu gestatten nicht gehindert ist', sofern nur damit keine Begünstigung des einen Kriegstheiles gegen den anderen verbunden wird. Es kann daher selbst die Aufnahme einer verfolgten Kriegsschaar oder Marine der feindlichen Partei noch kein Recht zur Verfolgung der flüchtigen Schaar in das neutrale Gebiet hinüber geben; nur muß die neutrale Staatsgewalt verhindern, daß die aufgenommene Truppen oder Schiffsmacht sich hier von Neuem sammle und das Ashl zu einem Angriffsplage wider den Gegner benute. Man hat fie mit einem Worte nur als Einzelne und Private zu behandeln, nur Pflichten der Menschlichkeit zu erfüllen und lediglich zu ihrem weiteren ungekränkten Fortkommen über die Landesgrenzen, ohne sie den Angriffen des Feindes wehrlos bloszustellen, nicht aber zu einer Wiedervereinigung mit der bewaffneten Macht, wozu sie bisher gehörten, oder zu einer unmittelbaren Offensive, die Hand zu bieten2. — Wird das neutrale Gebiet wirklich zu einem Angriffe oder Gefechte zu Wasser oder zu Lande benutzt, so hat die dortige Staatsgewalt das Recht eines thatsächlichen Einschreitens zur Verhinderung der Gebietsverlegung. Der Kampf ist in Hinsicht ihrer ein durchaus illegaler, dem sie also auch keine rechtlichen Wirkungen zuzugestehen verpflichtet ist; befinden sich demnach die streitigen Parteien in ihrem Bereiche und unter ihrer Botmäßigkeit, so kann sie selbst dem Sieger die Früchte des illegalen Kampfes wieder entziehen und z. B. Gefangene und Beute wieder frei machen. Thut sie es nicht, obgleich sie es

1) Vgl. Wheaton, Intern. L. IV, 3, 11. Ortolan II, 239. Hautefeuille I, 473. Vorzüglich Lud. Ern. Püttmann, de iure recipiendi hostes alienos. Lips. 1777.

2) Ueber die Maximen, welche man in Seeftaaten befolgt, in Bezug auf Kriegsschiffe und Caper, auf Handelsschiffe und auf eingebrachte Prisen, ferner wenn feindliche Schiffe sich neben einander daselbst befinden, vgl. Moser, Vers. X, 1, 159. 311. v. Martens, Völkerrecht § 307. Klüber § 258. Not. b. Ortolan II, 248. de Pistoye et Duverdy, Prises maritimes I, 108. Hautefeuille I, 474. II, 91. 137. Eine interessante Verhandlung über die hier sich darbietenden Fragen fand zwischen dem Senat der freien Stadt Lübeck und der Schleswig-Holsteinischen Regierung im Juli und August 1850 Statt.

3) Auch eine schon früher begonnene Verfolgung giebt dem Kriegführenden kein besseres Recht. Wheaton, Intern. L. IV, 3, 6 u. 7. v. Martens, Caper § 18.

ohne Gefahr und Kampf vermöchte, so würde dieses eine Verletzung der Bedingungen der Neutralität sein (§ 147). Hat freilich der Neutrale selbst ein Hilfscorps einem kriegführenden Theile gestellt, so kann er sich natürlich über eine Verletzung des Gebietes nicht beflagen, wenn jenes von dem siegreichen Feinde dorthin verfolgt und der Kriegsschauplag gegen dasselbe nun dahin verlegt wird (§ 118). Fortsetzung.

150. Zweitens. Jeder neutrale Staat kann, so lange er selbst Treue und Glauben bewahrt, die ihm auch im Frieden gebührende Achtung vor seiner Persönlichkeit, seinen Handlungen und Erklärungen fordern. Er hat die Präsumtion für sich, daß er den Charakter der Neutralität streng bewahren und nicht etwa Erklärungen oder sonstige Handlungen zum Deckmantel einer Ungerechtigkeit gegen den einen kriegführenden Theil zu Gunsten des anderen, oder auch beiden gegenüber in gleicher Weise benutzen werde. Wichtig ist dies vorzüglich in Ansehung der von einer neutralen Gewalt ausgestellten Pässe, Commissionen und Beglaubigungen. Kein Neutraler fann

Drittens vermöge der ihm zustehenden Unabhängigkeit und Gleichheit mit anderen Staaten von den Kriegführenden oder Einem derselben in Beziehung auf sein Verhalten Gefeßen oder einer Gerichtsbarkeit unterworfen werden, welche nicht in Verträgen mit ihm oder in allgemein giltigen Grundsäßen des Völkerrechtes ihre Stüße finden. Er darf, wo diese nicht Platz greifen, innerhalb seines Rechtsgebietes ganz nach eigenem Ermessen verfahren und hat dagegen keiner kriegführenden Macht die Hand zur Ausführung einseitiger Maximen derselben zu bieten; vielmehr ist er berechtiget, innerhalb seines Gebietes einer Kriegspartei seinen Schuß gegen offenbares Unrecht zu ertheilen, vorzüglich auch seine eigenen Unterthanen in der Ausübung ihrer völkerrechtlichen Befugnisse und Sicherstellung gegen die Willkür der Kriegführenden kräftig zu handhaben. Sä

Viertens. Alles, was dem neutralen Staate außerhalb seines Gebietes gehört, verbleibt ihm als unantastbares Eigenthum selbst dann, wenn es sich bei einer kriegführenden Partei oder im Gemenge Vgl. Nau, Völkerseer. § 235. Ortolan II, 255. 278. Pando p. 465. de Pistoye et Duverdy I, 22. Phillimore III, 457.

mit den Sachen derselben befindet. Das Beuterecht findet daran nicht Statt. Eine Ausnahme tritt herkömmlich nur ein, insofern das neutrale Eigenthum zur unmittelbaren Unterstützung eines kriegführenden Theiles bei den Kriegsunternehmungen dient und demselben ausdrücklich zur Disposition gestellt ist, namentlich wenn es zur Kriegscontrebande gehört, deren Begriff noch weiterhin festzustellen ist, in welchem Falle auch das neutrale Gut der Beschlagnahme und Aneignung von Seiten des siegenden Gegners so wenig als feindliches Gut selbst entgeht.

Unbewegliches Gut eines neutralen Staates oder seiner Unterthanen in Ländern der kriegführenden Staaten kann natürlich der Mitleidenheit bei den Kriegslasten nicht entzogen bleiben. Dagegen ist es höchstens nur als eine Maßregel der höchsten Noth zu entschuldigen und nur gegen vollständige Entschädigung zulässig, wenn ein kriegführender Theil neutrale Sachen, z. B. Schiffe, in Beschlag nimmt und zu seinen Zwecken verwendet (ius angariae)', oder neutrale Waaren, Magazine, Getreide und dergl., was sich zufällig in seinem Gebiete befindet oder auf offener See angetroffen wird, für seine Zwecke gebraucht, wenngleich gegen Vergütung des Werthes vermittelst eines sogenannten Vorkaufs2.

Dasselbe gilt von der Wegnahme und dem eigenmächtigen Verbrauche der Matrofen oder Schiffsführer eines neutralen Staates.

Rechte der Neutralen in Ansehung des Handels.

151. Welche Uebereinstimmung auch im Ganzen über die vorausgeschickten Grundsäge obwaltet, so mißlich steht es mit der Anwendung derselben auf das Recht des freien Verkehres der Nationen, insbesondere auf den Seehandel. Zwar findet, was den Verkehr der Neutralen unter einander selbst betrifft, kein Bedenken

1) Ludwig XIV. erklärte ein solches Verfahren geradezu für ein Recht. Vgl. de Real V, 2 a. E. In neueren Verträgen ist es entweder ganz aufgehoben oder ausdrücklich nur gegen volle Entschädigung gestattet. Vgl. Nau, Völkerseer. § 260 und im Allgemeinen noch Groot III, 17, 1. de Steck, Essais p. 7. Hautefeuille IV, 434. Phillimore III, 41.

2) Le droit de préemtion, ausgeübt freilich auch wohl außer dem Falle der Noth. Es wird davon noch weiterhin die Rede sein.

über die unbedingte Freiheit desselben Statt; nur die Signalisirung oder Kenntlichmachung eines solchen Verkehres und die Abwehrung einzelner Plackereien, welche der Kriegsstand unter anderen Nationen nach der bisherigen Praxis mit sich gebracht hat, macht noch die Feststellung gewisser Principien in Zukunft nothwendig, welche jedoch wieder mit der Hauptfrage zusammenhängen, ob und was für Beschränkungen nämlich der neutrale Handelsverkehr mit den kriegführenden Theilen selbst sich auferlegen lassen müsse. Diese Frage ist nun schon seit Jahrhunderten ein Eris - Apfel für die Staaten geworden; sie ist es, welche am meisten den Mangel eines Staatencoder oder doch Staatentribunales fühlbar macht; bei ihrer Entscheidung tritt in der Praxis vorzüglich das Recht des Stärkeren und die Rechtlosigkeit der Schwächeren hervor. Und nicht blos in der Staatenpraxis streitet man über die Frage, sondern auch die Theorie ist noch nicht zu einer Verständigung über die Principien gelangt. Zwar haben sich beide mitunter in die Hülle von gesetzlichen Vorschriften und von Richtersprüchen in einzelnen Landen einzukleiden und dadurch eine gewisse imponirende Autorität zu erlangen gewußt; dennoch sind diese Gesetze und Urtheilssprüche nichts als Acte der Politik einzelner Staaten, nicht bindend für die anderen, ausgenommen wenn sie der schwächere Theil sind und die Vollziehung jener Gesetze, ihrer Ungerechtigkeit ungeachtet, zu befürchten haben.

Nirgends sieht die Wissenschaft des Völkerrechtes eine ungebahntere Straße vor sich; keine Uebereinstimmung der Praxis und Verträge, keine der Theorie! und doch kann es auch hier an allgemein giltigen Grundsäten für die Staaten, womit sich unser System beschäftigt, nicht fehlen, wenn überhaupt ein Recht unter ihnen bestehen soll, wenn die Rechtsverhältnisse unter ihnen, wie sie bisher fest= gestellt wurden, in sich wahr sind und der Wirklichkeit entsprechend. Aus dieser wollen wir daher auch jezt die Lösung der einzelnen Streitfragen vorzüglich schöpfen, indem wir nur die in der Staatenpraxis gegenseitig und allgemein angenommenen Regeln als Geseze des gemeinsamen Willens gelten lassen, wo aber ein solcher nicht erweislich ist, eine Lösung aus dem vorangeschickten Ganzen versuchen1.

1) Eine gründliche Zusammenstellung der Theorie und Praxis über diesen Gegenstand giebt die Schrift: Researches historical and critical in maritime internat. Law. By James Reddie, Esqu. Edinb. 1844, 45. II Vols. Im Re

England

Entwickelung der Praxis.

152. Die Geschichte unserer Frage' beginnt vorzüglich erst mit dem sechzehnten Jahrhundert, seitdem nämlich der Seehandel nicht mehr blos in den Händen einiger weniger begünstigter thatenreicher Nationen, Gesellschaften und Städte verblieb, sondern eine allgemein anziehende Kraft auf jede Nation ausübte, als eine Hauptquelle des Wohlstandes der Nationen erkannt und von den Regierungen befördert. Der Wettkampf der Interessen, welcher hierdurch hervorgerufen ward, erzeugte in den Staaten, die dazu Gelegenheit hatten, sowohl eine Vermehrung der Handels- wie auch der Kriegsmarine und einen eifersüchtigen Kampf der Nationen mit einander, aus welchem nur Ein Staat unter ungeheueren Anstrengungen mit einer Größe und Bedeutung hervorgegangen ist, wie ihn in bleibender Gestalt weder die alte noch neue Welt bisher gesehen hat. Um diesen Mittelpunkt herum hat sich die ganze neuere Seekriegspraxis gestaltet. Scheinbar dem alten einfachen Rechte früherer Jahrhunderte anhängend, Abweichungen davon nur der Vertragswillkür zuweisend, hat der ge= dachte Staat nicht der Mittel ermangelt, bei Anwendung seiner Grundsätze sein Uebergewicht allen anderen Staaten fühlbar zu machen, ja zuweilen jene zu einer unerträglichen Strenge auszudehnen, wodurch eine Reaction unvermeidlich und nothwendig ward. Eine solche trat denn auch vornehmlich seit dem siebzehnten Jahrhundert während der oftmaligen Kriege Großbritanniens mit Spanien und Frankreich hervor; die letztere Macht seit Ludwig XIV. schuf sich selbst, unter Lossagung von dem bisherigen gemeinsamen und dem Aufblühen des Handels verderblichen Systeme, einen neuen Seecoder in dem Meisterwerke der Ordonnanz von 1681, deren Grundsäge allmählich immer größeren Beifall fanden, im Besonderen auch im Utrechter Friedensschlusse eine schon ausgedehntere intersultat freilich nur eine Vertheidigung der Hauptpunkte der Britischen Praxis; jedoch mit einzelnen Concessionen. S. darüber die Bemerkungen von Ortolan II, p. 430. Kein Schriftsteller kann hier leicht seine Nationalität verleugnen.

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1) Vgl. die ausgezeichnete Darstellung von Hautefeuille I, 26 f.

2) Ihr liegen allerdings schon einige ältere Reglements zum Grunde, allein Ludwig XIV. gestaltete diese erst zu einem Systeme. Das Seerecht wurde dadurch zwar particularisirt, allein auch dieser Weg mußte erst durchgegangen werden, um im Kampfe über die Principien zu sicheren völkerrechtlichen Regeln zu gelangen.

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