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herbei zu führen. 1) Die Nation ist der Standpunkt der Mündigkeit; die Anerkennung, welche einer Sprache mit dem schriftlichen Gebrauche derselben widerfuhr, bezeichnete den Eintritt in die Stufe der Mündigkeit.

Die Gebräuche, welche die Nation geerbt, erhalten durch die Sprache eine feste Gestalt; daraus bilden sie sich vermöge begrifflicher Auffassung zum Rechte fort. Mit diesem Eintritt beginnt, weil die Verantwortlichkeit, darum das politische Arbeiten der Nation auf dem Wege, auf dem die Entwicklung aus den feudalen Beschränkungen des Volkswesens zur constitutionellen Beschränkung des Staatswesens winkt. 2) Zu diesen drei constituirenden Elementen der Eigenart kommt noch die Religion als Gemeinsames hinzu. Diese Thatsache ist die Antwort auf die Frage, ob der Mensch sich in seinem menschlichen Thun selbst genügte, oder ob er äusserer Hülfe bedurfte, und wie die Form war, wodurch er die Hülfe zu erlangen trachtete? Wie den Einzelnen, so betraf diese Frage auch die Vereinigung der Menschen. Religion und Religiosität waren von jeher in der Geschichte eines der sie constituirenden Elemente gewesen. Zur Zeit, als die europäischen Nationalitäten entstanden, war die christliche Religion in kirchlicher Form der fertige Ausdruck dieses Bedürfnisses. Die Kirche als die Bewahrerin ihrer Lehre und Geheimnisse verliess durch die Centralisirung der Gewalt nach und nach den Standpunkt, von dem aus die einzelnen Nationalitäten als freie Glieder der universalen Gemeinschaft ihre religiöse Aufgabe erfassten. Sie nahm die Gestalt eines Staatswesens an, zu einer Zeit, als die Reihe an den Nationalitäten gewesen wäre, ihr Staatswesen zu begründen, im eilften Jahrhundert, unter dem Primat Gregor's VII.3) Dieses Staatswesen beschränkte das Recht und die Freiheit der

1) Vgl. Böckh: „Ueber die statistische Bedeutung der Volkssprache als Kennzeichen der Nationalität" (Ztschr. f. VPsychologie) und Sloet in der Tijdschrift voor Staathuishoudkunde en Statistik 1866. VIÍ. Stuk. Merkwürdigerweise oft nach kurz vorausgegangener Befreiung aus grosser Gefahr von Aussen her. In dieser Beziehung waren die Tage von Marathon (vgl. Platää) an der Allia, bei Tours, bei Merseburg (vgl. auf dem Lechfelde), bei Ölmütz (1241), bei Orléans (1429), von Moskau und bei Leipzig. Epochentage für die bewussten Nationen bzw. die Unabhängigkeit des Staatswesens derselben.

2) Hiermit sind die drei Stadien bezeichnet, welche bis zum Eintritt in die Geschichte passirt werden müssen: Stamm (genus), Nationalität (gens, vgl. natio), Nation oder Staatswesen (civitas im concr. Sinne).

3) Vgl. Reinkens, die Lehre des hl. Cyprian von der Einheit der Kirche. Würzb. 1873 (auf Grund der Ausg. v. W. Hartel im Corpus script. ecclesiastic. latinorum), bes. wegen cap. 4.

Nationalitäten und unterband ihre Interessen.1) Das Papstthum trat in die Fussstapfen der römischen Kaiser, zwang die Natio nalitäten, die sie in kirchliche Provinzen (Diöcesen) zerstückelte, zur Entsagung, und knüpfte sie an ihr Interesse und arbeitete sich zu jener obersten Gewalt durch, welche einige Jahrhunderte über die Reiche Europa's gebot. Die Folgen davon für die Sitten waren der Beweis des falschen Weges. Das Jahrhundert, welches diese Folgen in ihrer monströsesten Gestalt zeigte, erlöste das nationale Interesse aus dem Druck des universalen Interesses der Päpste, und machte aus den königlichen Vasallen Rom's Hüter der nationalen Bedürfnisse. Was das fünfzehnte Jahrhundert begonnen, setzte das sechzehnte fort. Aber indem dieses über die politische Reformation Europa's hinausgriff und die sociale oder rein kirchliche in Scene setzte, handelte es, ohne im Voraus berechnet zu haben, ob äqual den Königen, sich Patriarchen finden würden, um als Hüter des historischen Gewissens innerhalb der Nationen die Ansprüche des römischen Papstthums auf das Maass der Parität zu reduciren, wie es dem Geiste der ältesten Zeit entsprochen hätte.2) Es war eine Ueberstürzung, dass die Reformation, indem sie die römische Form zerbrach, dem einheimischen Episcopat die Initiative vorwegnahm. Dadurch gerieth das Reformwerk aus der competenten Hand in die Hand der Laien, und diese (die Souveräne) schufen, unter dem Eindruck des voreiligen Bruchs mit dem Wesen selbst, nach und nach Einrichtungen, die für kirchlich gelten sollten, wofür aber das Mandat fehlte, und die sich spät noch als Halbheiten erwiesen. Das bischöfliche Amt, welches nach Jahrhunderten, z. B. in Preussen, für die evangelische Kirche wiederhergestellt wurde, indem man auf das englische Beispiel zurückgriff, söhnte mit dem Radicalismus des sechszehnten Jahrhunderts wieder aus. Man hätte damals besser gethan, das Papstthum durch nationale Schwesterkirchen zu isoliren, und dadurch dieses zu nöthigen, sich als specifisch italienischer Katholicismus zu beschränken. Durch Theilung der kirchlichen Regierungsarbeit

1) Handel und Industrie. Man wird die zunehmende Blüthe der Hansa im vierzehnten Jahrh. nicht deuten, ohne dass man dabei die Abnahme des päpstlichen Einflusses infolge der Residenz in Avignon versteht in Betracht zu ziehen.

2) Auf Einen baute Christus die Kirche, sagt Cyprian (vgl. Reinkens, a. a. O.); der Einheit Ursprung soll von Einem anfangen, damit die Kirche als eine dargethan werde; ganz das Nämliche, was Petrus gewesen, waren allerdings auch die übrigen Apostel, mit dem gleichen Loose sowohl der Ehre, wie der Gewalt ausgestattet.

wäre die chaotische Vermengung der kirchlichen und der politischen Interessen verhütet, und durch Schonung des Wesentlichen der allgemeinen Tradition das religiöse Interesse der Gewissen erneuert worden. Statt durch die Zwangsform einer katholischen Reichsreligion, wie es deutscherseits, oder Staatsreligion, wie es französischerseits hiess, noch einer lutherischen, wie seitens Schwedens und Dänemarks u. s. w., wie sie die Politik erfand, günstig oder nachtheilig beeinflusst zu werden, hätte bei der Geltung des gleichen allgemeinen religiösen Interesses die innere politische Arbeit der Staaten praktischere Resultate geliefert, als sich jetzt aus ihrer Geschichte für die Zeit vom sechszehnten bis neunzehnten Jahrhundert nachweisen lässt. Die Väter der Verfassung der nordamerikanischen Union (1787) vermieden, da sie die confessionellen Differenzen vorfanden, wenigstens den Fehler, in den die europäischen Staatsmänner seit der Reformation verfallen waren, und schlossen jeden Pakt mit der einen oder der anderen Confession von dem Staatsinteresse aus. Daran hätten nach Ausbruch der französischen Revolution die Väter der ersten Constitution (1791) ein Beispiel haben können, liessen es aber unbefolgt. Während die Amerikaner unabhängig von sich selbst constituirten, folgten die Franzosen den Eingebungen ihrer Erziehung. Darum musste die katholische Kirche in Frankreich durch die Revolution in der durch sie veranlassten Weise die Heimsuchung aufs Neue über sich ergehen lassen, welche sie im sechszehnten in den von der Reformation ausersehenen Staaten, wie es schien, nicht genug erfahren hatte.

Diese Einwendungen gegen das radicale Vorgehen des deutschen Protestantismus von der Kirche heraus gegen den Standpunkt der Reichsreligion schliessen nicht aus, dass er durch sein Princip der Abwendung vom Papstthum in Sachen des Gewissens diesem letzteren eine freie Gasse gemacht hat, durch die sich die Resultate des Nachdenkens seitdem in den Strom der allgemeinen Cultur ergossen, dadurch die Methode wissenschaftlichen Forschens weckten, welche das vornehmste Attribut der europäischen Cultur ist, und dem über die Probleme irrenden Geist sichere Ankerstellen boten. Er hinderte andererseits Karls V. Projekt eines neuen universalen Reichs.

Im sechszehnten Jahrhundert tobten sich die religiösen Interessen müde, aber nicht aus. Im Anfange des siebenzehnten dienten sie der Politik noch als Handhabe, im weiteren Verlaufe desselben

legten die seit zwei Jahrhunderten je mit sich beschäftigt gewesenen Staaten, Frankreich voran, die ersten Proben, wie sie ihr internationales Verhalten verstanden, ab; das achtzehnte erzeugte das Gleichgewicht zwischen dem Hause Oesterreich und dem französischen Königthum behufs der Erhaltung des Friedens, aber nicht des Friedens, der der europäischen Menschheit nöthig war, um sich weiter zu entwickeln, sondern desjenigen, der den Despoten erlaubte, in Ruhe ihr Amt zu geniessen, also eines Friedens mit asiatischem Hintergrunde, also einer Analogie zu dem Ideal, welches die Päpste nöthig hatten, um der Menschheit ihr europäisches Regiment erträglich zu machen, und das, indem es als das Gesetz der Einheit gepriesen wurde, ebenso nachtheilig für Recht und Freiheit gewesen war.

Durch diese letzten Jahrhunderte hindurch, kurz zu sagen, glommen die religiösen Interessen mit der Wirkung unterirdischer Gewalten fort, ohne ihre magnetische Gravitation zu verlieren. Bei dem Ueberwiegen der niederen socialen und der politischen Interessen vermochte die europäische Menschheit wohl sich einer Täuschung über ihr letztes Bedürfniss, die Rückkehr zum Wesen der christlichen Religion, hinzugeben. Doch wird vorerst die Priesterschaft sich in den Centren der Kirchen von allen politischen Uebergriffen bekehrt haben, und die Resignation gegenüber dem eigenen Egoismus ihr neues Lebensprincip geworden sein müssen, 1) ehe die praktische Würdigung des Opfertodes Jesu Christi im Mysterium des Sakramentes den religiösen Unfrieden ablösen und dem Gewissen der Menschheit, die durch ihn erlöst wurde, den Frieden geben wird.

IV.

Ursprung der Völker.

Mit der Frage, aus welchen Momenten das nationale Leben sich herausbildet, hat die psychologische Erforschung der Geschichte ihre Aufgabe erfüllt. Denn sie will nur über die Interessen der politischen Existenz aufklären. Welches der Ursprung der Völker war,

1) Gemäss dem Ausspruche des erhabenen Stifters (,,Mein Reich ist nicht von dieser Welt") und dem Worte seines Apostels Petrus (,,Weidet die Heerde Christi nicht als die über das Volk herrschen, sondern werdet Vorbilder der Heerde." I. Petr. IV, 2 u. f.).

die die Geschichte der europäischen Staaten später nationale Wichtigkeit erlangen sieht, die Frage geht die geschichtliche Archäologie an, zu der auch das Capitel von den Menschen der Pfahlbautenzeit gehören würde. Von einem unmittelbaren Werth für die Lösung der Probleme, welche die Geschichte Europa's der Nachwelt stellt, sind diese archäologischen Forschungen nicht. Mit Recht sind sie von der Wissenschaft als Studien bezeichnet, die den prähistorischen Menschen zum Gegenstande haben.

Schon der scharfsinnige Florentiner kam in seinen Betrachtungen über Livius auf die Frage nach der Herkunft der Völker zu sprechen. „Die grossen Volksmassen", sagt er,,,kommen von jeher fast alle aus Scythien, 1) einem armen und kalten Lande. Da es viele Menschen dort giebt und das Land sie nicht ernähren kann, so sind sie zum Auswandern gezwungen, weil sie vieles forttreibt und nichts zurückhält. Wenn aber seit fünfhundert Jahren keine neuen Völkerschwärme Europa überschwemmten, so rührt dies aus mehreren Ursachen her. Die erste ist die grosse Ausleerung Scythiens zur Zeit des Sinkens des römischen Reichs, wo mehr als dreissig Völkerschaften auswanderten. Die zweite ist, dass Deutschland und Ungarn, zwei Länder, aus denen gleichfalls solche Schwärme auszogen, jetzt so gut angebaut sind, dass die Eingebornen bequem dort leben können und nicht zur Aenderung ihrer Wohnsitze gezwungen sind. Andererseits bilden sie, als sehr kriegerische Männer, ein Bollwerk, das die angrenzenden Scythen nicht wegnehmen oder umgehen zu können glauben. Häufig entstehen auch grosse Bewegungen unter den Tataren, die die Ungarn und Polen zurückhalten, und häufig rühmen sich diese Völker, dass ohne ihre Waffen Italien und die Kirche oftmals das Gewicht der tatarischen Heere gefühlt haben würde.")

Die wichtigste Andeutung über die Herkunft der Völker und somit über die Ursache der Völkerwanderung gab erst Alexander von Humboldt durch seinen Hinweis auf die allmählige Versandung der Mongolei, da wo die heutigen Temperaturkarten eine Strecke der Erde als regenlose Wüste bezeichnen. So ergänzte die Naturwissenschaft die Auslegungen früherer Forscher.

1) Allgemeiner Name für die weit nach Osten gelegenen Steppen des südlichen Russlands u. s. w.

2) Macchiav. Discorsi II, 8 (S. 181 Ziegler).

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